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Bürger nehmen sich Klimaziele vor

27. April 2021

Einhundertundsechzig Menschen, vier große Themen, ein Ziel: Die Regierung soll ihr Klimaversprechen einhalten. Ein Bürgerrat wird Deutschlands Umweltambitionen diskutieren und Empfehlungen einbringen.

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Symbolbild Weltkugel Junge Leute halten große aufblasbare Weltkugel hoch
Bild: Getty Images/AFP/J. Nackstrand

160 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürgern aus ganz Deutschland starten diese Woche ein Experiment in partizipativer Demokratie. Ziel der Aktion ist es, die öffentliche Debatte anzuregen und die Bundesregierung dazu zu bringen, ihr Versprechen umzusetzen, das Land bis 2050 klimaneutral zu machen. 

Der "Bürgerrat Klima" folgt Beispielen aus Irland, dem Vereinigten Königreich und Frankreich in den letzten Jahren. Das Konzept, Bürger direkt in klimapolitische Entscheidungen einzubeziehen, die ihr Leben in den nächsten Jahren prägen werden, soll den Menschen die Möglichkeit geben, auf eine Verschärfung der Klimapolitik zu drängen und politisches Handeln einzufordern. Der Erfolg der Experimente war bisher von Land zu Land sehr unterschiedlich.

In Irland verabschiedete die Regierung auf Anregung des 99-köpfigen Bürgerrates 2019 mehrere Reformen mit dem Ziel, den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2030 um 51 Prozent zu reduzieren. Dazu gehörte unter anderem die Empfehlung "sicherzustellen, dass der Klimawandel im Zentrum der Politik steht", was sich auf alle Bereiche von sauberer Energie über elektrische Fahrzeuge oder die Sanierung von Gebäuden bezieht.

Zwei als Putzfrauen verkleidete Demonstrantinnen rauchen auf einer Demo vor zwei Waschmaschinen in Großbritannien
Die Proteste von Extinction Rebellion in Großbritannien führten zur Gründung eines Bürgerrates Bild: Reuters/T. Jacobs
Bürgerinnen und Bürger diskutieren in Frankreich über die ökologische Zukunft ihres Landes
Frankreichs Bürgerrat hat 149 grüne Vorschläge unterbreitet, um dem Land zu helfen, seine Klimaziele zu erreichenBild: Katrin Baumann

In Frankreich war der Gesetzgeber jedoch weniger begeistert von den kühnen Vorschlägen der 150 Teilnehmer. Sie forderten unter andrem ein Verbot von Inlandsflügen und wollten die Zerstörung der Umwelt zu einem Verbrechen erklären lassen.

Frankreich will noch in diesem Jahr ein neues Klimagesetz verabschieden, dass die CO2-Emissionen des Landes in den nächsten zehn Jahren um 40 % senken soll. Weniger als die Hälfte der Ideen des Bürgergruppe wurden darin aufgenommen. Greenpeace kritisiert, dass vorgeschlagene Gesetz wäre "vor 15 oder 20 Jahren […] ehrgeizig" gewesen.

Lösungen "in entscheidender Phase für das Klima" nötig

Das erste Treffen der deutschen Bürgerversammlung, die vom deutschen Zweig der Scientists 4 Future und dem Bürgerbegehren Klimaschutz ins Leben gerufen wurde, war für Montagabend (26. April) anberaumt. In den folgenden zwei Monaten wollen sich die 160 Teilnehmer zwölf Mal treffen, um gemeinsam ihre Vision zu entwickeln, wie Deutschland seine Ziele im Rahmen des Pariser Klimaabkommens von 2015 erreichen kann. 

In Kleingruppen werden sie sich mit Experten beraten und dann konkrete Lösungsvorschläge für die vier wichtigsten Themenbereiche machen. Dazu gehören: Mobilität, Gebäudewesen und Heizung, sowie die Produktion und der Konsum von Lebensmitteln.

Nach ihrer abschließenden Sitzung im Juni wird die Gruppe darüber abstimmen, welche ihrer unverbindlichen Empfehlungen an die Regierung weitergeleitet werden — kurz vor dem Endspurt des Wahlkampfs zur Bundestagswahl im September.

Lisa Badum, klimapolitische Sprecherin der Grünen  freut sich auf eine belebende Debatte durch den Bürgerrat und seine Vorschläge und drängt auf eine überparteiliche Antwort ihrere Parlamentskollegen in Berlin.

Es sei wichtig, so Badum gegenüber der DW "dass nicht nur eine Partei sagt, sie nimmt es ernst, sie diskutiert über die Ergebnisse, sondern eben möglichst alle demokratischen Parteien", und fügt hinzu, dass vor der Wahl am 26. September noch ein paar Wochen Zeit bleibe, um die Vorschläge im Parlament zu diskutieren. 

Grünes Deutschland?!

"Es ist die Entscheidungsphase fürs Klima und alle Parteien müssen hier radikal an die Wurzel gehen und wirklich Lösungen vorbringen, wie wir unser Wirtschaftssystem - was aktuell unsere Lebensgrundlagen zerstört, so wie es ausgerichtet ist - umbauen können. Und da wird ein Klima Bürgerrat den Scheinwerfer drauf richten", so Badum weiter.

Felix Jansen ist Kommunikationsdirektor bei der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) - diese unterstützt die Arbeit der Bürgerversammlung öffentlich. Jansen glaubt, dass fast alle politischen Parteien in Deutschland - abgesehen von der klimaskeptischen Alternative für Deutschland (AfD) - in den letzten Jahren begonnen haben, die Dringlichkeit der Klimakrise zu erkennen, auch aufgrund der Wahlerfolge der Grünen. Er findet es entscheidend, nicht nur auf die Experten zu hören.

"Es gibt Bereiche, in denen es wahnsinnig wichtig ist, wenn es einfach nur um um reine Fakten geht, dass man auf Experten hört," erklärt Jansen. Er und Badum glauben aber, dass es ebenso wichtig ist, Menschen aus allen Alters- und Gesellschaftsschichten zuzuhören, auch wenn sie nicht tief im Thema sind.

"Wir haben viele wissenschaftliche Gremien, die uns beraten zur Energiewende und zum Klimaschutz, was gut und richtig ist. Wir haben aber wenig Foren, wo auch Bürgerinnen und Bürger zu Wort kommen", so Badum. "Alle sind Expertinnen und Experten für ihr eigenes Leben und können einbringen, welche Maßnahmen aus ihrer Sicht sinnvoll sind."

"Wir bauen heute schon die Städte von 2050"

Die DGNB wirbt seit 2007 für das Thema Nachhaltiges Bauen und sieht die Bürgerversammlung auch als Chance, um zu prüfen, ob diese Botschaft in der Öffentlichkeit ankommt.

"Es ist definitiv ein Themenfeld, das bislang ein bisschen unter dem Radar fliegt, was eigentlich verrückt ist, wenn man sich anschaut, welche Rolle der Gebäudesektor im Kontext von Klimaschutz spielt", so Jansen. "Das ist natürlich ein ganz entscheidendes Feld, wenn wir den Weg zur Klimaneutralität in Europa und Deutschland schaffen wollen."

Reihe von Altbauten in Köln
Altbauten sind schön, aus ökologischer Sicht aber oft nicht energieeffizient und modernisierungsbedürftigBild: picture-alliance/Geisler-Fotopress
Ein altes Haus neben einem sanierten Altbau
Ein Großteil des deutschen Wohnungsbestands wurde vor 1990 gebaut.Bild: Arno Rude/Zoonar/picture-alliance

Deutschland, das bis Mitte des Jahrhunderts in allen Sektoren - auch im Bauwesen - klimaneutral werden will, steht vor einer großen Herausforderung. Zahlen der Bundesregierung aus dem Jahr 2018 zeigen, dass fast ein Drittel des gesamten Energieverbrauchs des Landes für das Beheizen von Räumen und Wasser in Gebäuden benötigt wird. Die Treibhausgasemissionen aus dem Gebäudesektor machten rund 14 % der Gesamtemissionen Deutschlands aus - und fast alles entfiel auf die Beheizung der 22 Millionen Gebäude bundesweit, die hauptsächlich mit Öl und Erdgas beheizt wurden. 

Mehr als 76 % des deutschen Wohnungsbestands wurden vor 1990 gebaut, wie aus der letzten Erhebung aus dem Jahr 2011 hervorgeht. Verbesserte Dämmung, saubere Technologien wie Wärmepumpen und der Wechsel zu erneuerbaren Energien könnten einen großen Beitrag zum umweltfreundlichen Umbau der alternden Gebäude leisten. Bisher haben hohe Kosten, fehlende klimafreundliche Richtlinien und zu wenig Anreize sowie die schiere Anzahl von Hausbesitzern, Vermietern und anderen Akteuren die Modernisierung jedoch gebremst.

In der Europäischen Union gibt es bereits Pläne zur Renovierung und Verbesserung des Wohnungsbestands in allen Mitgliedstaaten im Rahmen des EU Green Deal. Etwa 75 % des Gebäudebestands in der EU sind demnach bisher nicht energieeffizient.

Jansen betonte jedoch, dass es auch wichtig sei, Änderungen an aktuellen Bauprojekten vorzunehmen. "Wir bauen schon heute die Städte von 2050", sagte er und fügte hinzu, dass man keine Zeit hätte, auf wichtige Klimaentscheidungen zu warten, denn Gebäude, die jetzt errichtet werden, seien noch Jahrzehnte lang vorhanden. 

"Die Eingriffe, die man jetzt schon machen muss, die werden teils große Anstrengungen erfordern. Und je länger wir warten, desto schmerzhafter wird es und desto mehr merken wir, dass es da eben Einschränkungen gibt. Darum ist es so wichtig, dass das Thema immer mehr in den Fokus rückt und dass da frühzeitig gehandelt wird", so Jansen weiter.

Ständiger Austausch zwischen Regierung und Bürgern nötig

Sowohl Jansen als auch Badum hoffen, dass der Prozess, den die 160 Mitglieder des Bürgerrats jetzt starten, der Beginn eines kontinuierlichen Austauschs zwischen Bürgern und der Regierung zum Thema Klima in den kommenden Jahren wird.

"Ich finde, dass wir in Deutschland ein sehr durch Lobbyarbeit beeinflussten Land sind", sagt Jansen. "Es passiert relativ viel in den Eliten — die Diskussionen werden oft auf einem Level geführt, wo man nicht so richtig weiß, ob alle Leute mitgenommen werden."

"Jede Gruppe ist so ein bisschen in ihrem eigenen Echoraum und wirft den Stein ins Wasser, um die eigenen Wellen zu spüren. Aber der Dialog findet eben nicht statt", sagt Badum. "Wenn man hier den Blickwinkel der Bürgerinnen und Bürger hat, und sie sich in den Prozess stark einbringen, gibt uns das in der Politik natürlich auch ein stärkeres Mandat. 

Trend zum nachhaltigen Bauen mit Holz