Justizdrama "Ökozid": Deutschland vor Gericht
16. November 2020Im Jahr 2019 bekam das Oberste Gericht der Niederlande als erste gerichtliche Instanz die Kompetenz zugeschrieben, die Regierung im Rahmen ihrer Menschenrechtsverpflichtungen zu klimaschützenden Maßnahmen in die Verantwortung zu nehmen. Das war eine historische Entscheidung. Auf der ganzen Welt sind nun hunderte ähnlich gelagerte Gerichtsverfahren anhängig, die dem ursprünglich 2013 eingereichten, niederländischen Vorbild folgen.
Vor kurzem haben Kinder aus Portugal eine Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen 33 Industrienationen eingereicht. Sie werfen den Ländern vor, nicht genug gegen die Senkung von CO2-Emissionen getan zu haben.
Film über Deutschlands Klimapolitik
Ein neuer deutscher Fernsehfilm mit dem Titel "Ökozid" erzählt von einem ähnlichen fiktiven Fall im Jahr 2034: Ein Verbund von 31 Ländern aus dem Globalen Süden klagt gegen die Bundesrepublik Deutschland.
Der Internationale Gerichtshof soll ermitteln, ob Deutschland aufgrund fehlender Klimaschutz-Maßnahmen gegen die Verpflichtung verstoßen hat, das UN-Menschenrecht auf Leben zu schützen. Vor diesem fiktionalen Setting tauchte Filmemacher Andres Veiel in Deutschlands Umweltpolitik der Jahre 1998 bis 2020 ein. Veiel sei für das Filmprojekt, das sich auch als Antwort auf den bedenklich heißen Sommer 2018 verstehe, in eine "sehr ausführlich betriebene Fakten-Recherche über die deutsche Klimaschutzpolitik" eingestiegen, sagte der Regisseur im DW-Interview.
Der Filmemacher ist in Deutschland für seine tiefgehenden Recherchen bekannt. In seinem Dokumentarfilm "Black Box BRD" kontrastierte er zwei gegensätzliche Biografien miteinander: den ermordeten Deutsche-Bank-Vorstandssprecher Alfred Herrhausen, der 1989 durch ein Bombenattentat ermordet wurde, und den Hauptverdächtigen, ein Mitglied der linksextremistischen RAF. In seiner Filmbiografie "Beuys" über den Künstler Joseph Beuys arbeitete er sich durch hunderte Stunden Archivmaterial und über 20.000 Fotografien.
Deutschland Spitzenreiter beim Braunkohle-Verbrauch
Bei seinem aktuellen TV-Projekt wurde schnell klar, dass ein fiktionaler Rahmen geeigneter ist als der Versuch, "der BBC Konkurrenz zu machen und eine weitere Dokumentation über das Klima zu machen", so Veiel. Vielmehr wollte er einen Schritt weitergehen: "Wie weit können Gerichte in der Lage sein, Klimagerechtigkeit herzustellen?"
Und obwohl der Film in der Zukunft spielt, behandelt die fiktive Gerichtsverhandlung aktuelle, realpolitische Fragen: 2034 wird Deutschland noch immer vier Jahre bis zum endgültigen Abschalten aller Kohlekraftwerke haben, ein Datum, dass 2020 in einem Gesetz festgelegt wurde.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze sprach bei dem Gesetzesbeschluss von einem "großen politischen Erfolg für alle, die sich für eine klimafreundliche Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder" einsetzen. Aktivisten hatten die Gesetzgebung stark kritisiert, weil sie nicht schnell genug auf den Klimanotstand reagiere.
Kein anderes Land verbrennt so viel Lignit, also Braunkohle, wie Deutschland. Braunkohle ist der billigste, aber auch dreckigste Energielieferant. Hunderte Dörfer wurden durch den Braunkohletagebau in Deutschland zerstört.
Enge Verflechtungen zwischen Politik und Kohlebranche
Wenn auch - und das zeigt der Film - schon erheblich mehr Jobs im Bereich der erneuerbaren Energien entstanden sind, gibt es trotzdem noch immer wirksame traditionell gewachsene Verflechtungen zwischen der Kohlebranche und der Politik.
Die Politiker haben diese enge Verbindung oft damit begründet, dass Deutschlands Position als eine der führenden Industrienationen der Welt durch eine konsequentere Klimapolitik geschwächt worden wäre. "Aber das Gegenteil wäre der Fall gewesen", unterstreicht Veiel. Durch das weitere Festhalten an konventionellen Energien habe Deutschland die Gelegenheit verpasst, auf neue Technologien zu setzen, die mit Wasserstoffantrieb oder mit Elektromobilität arbeiten.
Systematische Fehler im Umgang mit der Klimakrise
"Wir haben auf vielen Ebenen Jahre verloren. Aus einem kurzfristig angelegten Gewinnstreben wurden langfristig notwendige Ziele nicht verfolgt." Durch seine Recherchen zum Film war Andres Veiel geschockt über das "systematische Versagen", wenn es darum geht, den Klima-Notstand in den Griff zu bekommen.
Das passierte nicht nur einmal einem Minister unter Kanzlerin Merkel oder auch Schröder, so Veiel: "Jahr für Jahr gab es wiederholte Versuche, die strikteren Anforderungen der EU-Kommission zu schwächen und zu relativieren oder sogar komplett zu streichen."
SUVs als "klima-freundlich" bezeichnet
Obwohl Angela Merkel sich international als "Klimakanzlerin" einen Namen gemacht hat, klafft Veiel zufolge eine tiefe Lücke zwischen Forderungen und Ansprüchen und der Umsetzung dieser Vorhaben.
Ein Beispiel in dem Film zeigt, wie die Automobilindustrie einen Weg fand, um ihre neu entwickelten SUV als "klima-freundlich" zu bezeichnen, obwohl die schweren Automodelle, die von BMW und Daimler 2005 auf den Markt kamen, 50 Prozent mehr Kraftstoff verbrauchten als vergleichbare kompakte Fahrzeuge.
Als die Europäische Kommission den Vorstoß machte, die Autos mit ihrem CO2-Ausstoß zu kennzeichnen, um so die Konsumenten darüber zu informieren, kam die deutsche Automobilindustrie mit einer geschickten Lösung daher, die von der deutschen Regierung mit getragen wurde und sich so gegen das Vorhaben der Kommission richtete:
Die Berechnung des CO2-Ausstoßes wurde an das Fahrzeuggewicht gekoppelt - schwerere Modelle wurden höhere Emissionen zugestanden - wodurch einige SUVs einen besseren Wert erhielten als Wagen der Kompaktklasse.
Ökozid strafbar machen
Eine wachsende Zahl von Aktivisten verlangt, dass der Ökozid - gemeint ist die Ausrottung ganzer Völker durch die ökologische Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen - vor dem Internationalen Strafgerichtshof als eine Straftat anerkannt werden soll. Nicht nur radikale Aktivisten fordern das, selbst der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat vor kurzem angekündigt, ein Referendum darüber abzuhalten, ob der Ökozid unter französischem Recht strafbar werden kann.
Und das ist einer der Aspekte, die Andres Veiel Hoffnung machen: Die verstärkte Demokratisierung supranationaler Institutionen, die sich zusammentun, um nationale Aktivitäten zu sanktionieren, die dem gesamten Planeten schaden. So passiert es in dem Film mit dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs. "Das ist natürlich im Moment noch utopisch", so der Filmemacher, "aber das ist etwas, was kommen muss, und es wird auch kommen."
Adaption: Antje Allroggen
Der Spielfilm "Ökozid" von Andres Veiel läuft am 18. November im Rahmen der ARD-Themenwoche im Ersten.