Degenkolb: "Ich will der Beste sein"
24. April 2015DW: John Degenkolb, Hand aufs Herz, nehmen Sie den Roubaix-Pflasterstein momentan mit ins Bett?
John Degenkolb: (Lacht) Nein, mit ins Bett nehme ich ihn nicht. Sonst müsste ich wahrscheinlich noch eine Verstärkung in den Lattenrost einbauen. Das alles ist echt Wahnsinn. Der Stein (den der Gewinner von Paris-Roubaix bekommt, Anm. d. Red.) hat schon etwas Mystisches. Es ist beeindruckend zu realisieren, dass ich der einzige Deutsche bin, der zu Hause in seinem Wohnzimmer so einen Pflasterstein hat. Das ist wirklich schwer zu begreifen, aber so langsam kann ich es glauben.
Ist das ein Kindheitstraum, der da gerade in Erfüllung gegangen ist?
Auf jeden Fall, das ist wirklich etwas, wovon ich wahnsinnig lange geträumt habe. Ich habe schon als kleines Kind mitgefiebert, als ich noch ganz weit davon entfernt war, überhaupt bei Paris-Roubaix an den Start zu gehen. Jetzt habe ich es bei meiner fünften Teilnahme geschafft, den Stein mit nach Hause zu nehmen. Es ist wirklich ganz schwer in Worte zu fassen und dieses Gefühl zu beschreiben.
Sie haben in drei Wochen die beiden bekanntesten Eintagesrennen der Welt gewonnen, Mailand-San Remo und Paris-Roubaix. Wie sehr hat das ihr Leben verändert, haben die Erfolge vielleicht auch Sie verändert?
Die Art und Weise, wie man wahrgenommen wird, verändert sich. In den nächsten Rennen wird natürlich ganz anders auf mich geschaut. Es lastet ein viel höherer Druck auf mir, weil jeder denkt: 'Okay, das ist der Paris-Roubaix-Sieger, wollen wir mal sehen, was der so kann'. Aber ich denke, dass mein persönliches Leben, meine Privatsphäre, meine Familie, sich nicht so viel verändert haben. Und ich glaube auch, dass ich weiter mit beiden Beinen im Leben stehe. Ich habe auch zu Hause Aufgaben, ich bin Familienvater, daran wird sich nicht so viel ändern.
Viele Sportler beschreiben den Moment des größten Erfolges auch als einen, in dem sich eine Frage stellt: Was kann jetzt überhaupt noch kommen? Bei Ihnen scheint das nicht so zu sein…
Es ist wichtig, dass man ein gutes Umfeld hat, auch mit Leuten, die nicht nur sportfixiert sind. Denn das Leben ist so viel mehr als Sport, man sollte es auch genießen. Zu sehen, wie andere Menschen arbeiten, wie andere Menschen sich motivieren, das gibt mir dann auch wieder die Motivation und die Kraft, mir neue Ziele zu stecken und weiter zu arbeiten. Das ist, worauf es am Ende ankommt. Und obwohl ich das größte Ziel meiner Karriere erreicht habe, bin ich noch lange nicht am Ende. Ich habe mein Potential noch nicht komplett ausgeschöpft. Ich will der beste Klassiker-Fahrer sein - das ist mein Ziel.
Paris-Roubaix bedeutet für einen Rennfahrer Leiden. 250 Kilometer, gute 50 davon davon über grobes, zum Teil jahrhundertealtes Kopfsteinpflaster - das spürt man auch noch ein paar Tage später, oder?
Auf jeden Fall. Es ist das härteste Radrennen der Welt. Man kann das nicht mit der Tour de France vergleichen, die ist komplett anders, weil sich der Schmerz über drei Wochen hinzieht und immer ein bisschen stärker wird. In Roubaix geht man von null auf 100. Dementsprechend hat man auch danach noch Schmerzen und Wehwehchen - der zweite Tag danach ist der schlimmste.
Die Vorentscheidung in dem Rennen fiel durch eine Soloattacke von Ihnen. Ungewöhnlich für einen Sprinter, könnte man meinen. War das ein riskantes Spiel, das Sie da gespielt haben?
Das war definitiv hoch gepokert. Ich habe mir da wirklich ein Herz gefasst und gesagt, ich muss das jetzt probieren, ich muss den Sprung nach vorne schaffen. Andernfalls wäre ich vielleicht nicht über den dritten Platz hinausgekommen, zwei Fahrer waren vorne weg. Ich wusste, dass ich noch gute Beine hatte, und habe es einfach probiert. Ich bin meinem Instinkt gefolgt.
Bei Paris-Roubaix hatten Sie auch einen Fußabdruck Ihres Sohnes Leo-Robert auf den Rahmen geklebt. Ist das etwas, das Sie motiviert, der Gedanke an Ihren jetzt kürzlich erst im Januar geborenen Sohn?
Ja! Jeder Familienvater kennt dieses Gefühl des Glücks. Die Geburt meines Sohnes war der schönste Moment in meinem ganzen Leben und das ist auch durch nichts zu toppen. Wenn man dann am Start steht, nochmal in sich kehrt und dieses Ereignis mit hineinnimmt in seine Konzentration für das Rennen, setzt das so viele Kräfte frei, die man am Ende natürlich brauchen kann. Mein Sohn ist wirklich mein größter Stolz, den möchte ich natürlich auch bei solchen Rennen dabeihaben.
Als Sie 1997 ihr erstes Rennen fuhren, waren Jan Ullrich und Erik Zabel die Idole, die viele Jugendliche motivierten und zum Radsport brachten. Glauben Sie, dass Ihre Siege heute auch junge Nachwuchsfahrer inspirieren können?
Das hoffe ich sehr. Das ist auch ein Grund, warum wir Fahrer jetzt so offen und ehrlich auftreten, uns oft in der Öffentlichkeit zeigen und viele Autogramme schreiben. Ich hoffe, dass ich da auch Inspiration sein kann für die Generation nach mir. Ich würde mir wünschen, dass wir auch längerfristig vorne in der Weltspitze mitfahren. Es kommen wirklich viele gute junge Rennfahrer nach, auch in der U23 läuft es im Moment rund für Deutschland.
Die frühere Radprofi-Generation hat Ihnen mit den Doping-Skandalen ein schweres Erbe hinterlassen und einen permanenten Rechtfertigungsdruck. Nervt Sie das?
Ja, der Generalverdacht ist nach wie vor allgegenwärtig. Mein Beruf wird einfach generell mit dem Thema Doping in Verbindung gebracht. Das ist nicht schön. Aber es wird besser. Nach meinem Sieg in Roubaix habe ich weniger kritische Stimmen gehört. Es ist ein positives Zeichen, dass die Verdächtigungen jetzt mehr und mehr zurückgehen.
Viele in der Radprofiszene sagen, es ist heute leichter auf Doping zu verzichten als damals. Kann da etwas dran sein?
Mit Sicherheit. Wir sind gerade auf einem guten Weg, da es immer weniger Betrug in unserem Sport gibt. So wird Wettbewerbsgleichheit geschaffen, und das ist der Grund, warum auch immer mehr Athleten sauber fahren. Ich bin froh, dass auch ich meinen Teil dazu beigetragen habe.
Spüren Sie, dass das Interesse am Radsport in Deutschland wächst?
Auf jeden Fall. Wir bekommen mehr Interesse und Aufmerksamkeit - und es ist schön, dass es nicht nur um Doping, sondern um die Erfolge geht, die wir eingefahren haben. Die Leute interessiert wieder die Art und Weise, wie wir arbeiten, was wir machen, wie wir leben, was wir zum Beispiel im Trainingslager machen.
Nach den beiden Klassiker-Siegen bleiben jetzt eigentlich nur noch zwei große Ziele: ein Tour-Etappensieg und der Weltmeistertitel. Sowohl die Tour als auch das WM-Rennen enthalten Kopfsteinpflasterpassagen. Es könnte also Ihr Jahr werden...
Das wäre natürlich der allergrößte Traum, den ich mir in diesem Jahr erfüllen könnte. Ich glaube, ich darf mir jetzt aber auch nicht zu viel Druck machen, ich habe zwei riesengroße Rennen gewonnen und muss das voll und ganz genießen. Natürlich muss ich mich auch auf die neuen Ziele konzentrieren. Das ist ganz klar die Tour de France, ob das dann die Klassiker-Etappe sein wird oder eine andere Etappe, spielt für mich persönlich eigentlich keine Rolle. Ich habe Etappen beim Giro und der Vuelta gewonnen, jetzt möchte ich bei der Tour das Triple komplett machen.
Das Interview führte Joscha Weber.
John Degenkolb hat in diesem Jahr mit Mailand-San Remo und Paris-Roubaix die beiden bedeutendsten Frühjahrsklassiker gewonnen. In Roubaix beendete er eine Serie von 119 Jahren ohne deutschen Sieg. Degenkolb ist 26 Jahre alt und gilt als Allrounder auf dem Rad, der sowohl im Sprint als auch bei den Klassikern zu den Weltbesten zählt. Der Frankfurter fährt für das deutsche Team Giant-Alpecin und gilt als erklärter Doping-Gegner.