Das Vermächtnis des 20. Juli
19. Juli 2014Eine Stunde lang werden sie stillstehen auf dem Paradeplatz des Verteidigungsministeriums, die Uniformen penibel gerichtet, mit konzentrierten Gesichtern - die 430 Rekruten, deren öffentliches Gelöbnis einer Geschichtsstunde gleicht. Die jungen Männer und Frauen sind neu bei der Bundeswehr, sie haben sich am 1. Juli freiwillig zum Dienst gemeldet. Drei Wochen später erleben sie einen ganz besonderen Tag: Feierlich leisten sie ihren Treueschwur vor den Augen der Verteidigungsministerin, vor 2000 geladenen Gästen und laufenden Fernsehkameras.
Das Stabsmusikkorps spielt, die Soldaten des Wachbataillons marschieren auf, ein Ehrengast richtet das Wort an die jungen Männer und Frauen und mahnt sie, das Erbe des 20. Juli 1944 zu bewahren. Danach geloben sie im Chor, "der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen". Sechs von ihnen legen dabei stellvertretend für alle Rekruten die Hand auf die deutsche Fahne.
Gedenken an die Männer des 20. Juli
An jedem 20. Juli ist Berlin der Schauplatz eines feierlichen Gelöbnisses - zu Ehren jener Offiziere, die sich am 20. Juli 1944 mutig gegen Adolf Hitler erhoben, deren Umsturzversuch aber misslang. Nur einen Steinwurf entfernt von dem Ort, an dem die Soldaten ihren Treueschwur ablegen, wurden Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg und einige seiner Mitverschwörer im Hof des Bendlerblocks hingerichtet. Heute ist die Straße, die zum Verteidigungsministerium führt, nach Stauffenberg benannt. Damals musste der Offizier mit seinem Leben dafür bezahlen, dass er am 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier "Wolfsschanze" einen Sprengsatz in Hitlers Nähe deponiert hatte. Das Attentat missglückte, der in Berlin in Gang gesetzte Staatsstreich scheiterte. Noch in der Nacht wurden Stauffenberg und seine Mitverschwörer erschossen.
Berthold von Stauffenberg erinnert an seinen Vater
Als Stauffenberg hingerichtet wurde, war sein Sohn Berthold, der in diesem Jahr die Gelöbnisansprache hält, gerade zehn Jahre alt. Auch er und seine Geschwister mussten für die Tat des Vaters büßen: Sie wurden von der Mutter getrennt und in ein Kinderheim verschleppt. Berthold Schenk Graf von Stauffenberg - später selbst Offizier - erlebte mit, wie die Männer des 20. Juli 1944 noch lange nach Kriegsende als Verräter geschmäht wurden.
Erst 1954 rehabilitierte kein geringerer als Bundespräsident Theodor Heuss die Männer des militärischen Widerstands. "Es gibt Gehorsamsverweigerungen, die einen historischen Rang besitzen", erklärte er in einer epochemachenden Rede, die die Bundesregierung als Sonderdruck millionenfach verbreiten ließ. Auch die 1955 neu gegründete Bundeswehr stellte sich in die Tradition jener Offiziere, denen ihr Gewissen wichtiger war als militärischer Gehorsam. "Ihr Geist und ihre Haltung sind uns Vorbild", schrieb schon 1959 der erste Generalinspekteur der Bundeswehr, Adolf Heusinger, in einem Aufruf an die Kommandeure.
Grenzen des Gehorsams
Die enge Bindung der Bundeswehr an die Verfassung und das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform" haben ihre Wurzeln auch im militärischen Widerstand gegen die Nazi-Diktatur. "Das Handeln des Soldaten ist immer an die Verpflichtung gebunden, die unantastbare Würde des Menschen zu achten und zu schützen", sagte der ehemalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) bei einer Gelöbnisfeier. "Daher sind Befehl und Gehorsam klare Grenzen gesetzt. Diese Grenzen haben die Männer des militärischen Widerstandes gewahrt."
Einer dieser Männer war Ewald-Heinrich von Kleist - der Offizier kam nach dem gescheiterten Umsturzversuch mit dem Leben davon. Bei der Gelöbnisfeier im Jahr 2010 berichtete der letzte damals noch lebende Mitverschwörer von den Motiven der Widerständler: Sie seien tief beschämt gewesen über die Verbrechen, die im deutschen Namen begangen worden seien und hätten "das entsetzliche Töten beenden" wollen. Es habe auch die Hoffnung eine Rolle gespielt, der Welt zu zeigen "dass nicht alles hingenommen worden war", so von Kleist, der sich später als Gründer der Münchner Sicherheitskonferenz dem Dialog zwischen Militär und Politik verschrieb. Heute ist die Kontrolle der Bundeswehr durch das Parlament so selbstverständlich, dass das Gelöbnis in jedem zweiten Jahr vor dem Reichstagsgebäude abgehalten wird, in dem der Bundestag seinen Sitz hat.
Bewegende Reden
Viele Gelöbnisansprachen dürften den Rekruten lange im Gedächtnis geblieben sein. So berichtete Altbundeskanzler Helmut Schmidt im Jahr 2008, wie er 1944 als Soldat den Schauprozess gegen die Widerstandskämpfer des 20. Juli im Gerichtssaal mitverfolgen musste. Erst da habe er den verbrecherischen Charakter des NS-Regimes begriffen. Trotzdem habe er danach seine Befehle weiter befolgt so wie Millionen anderer Soldaten auch, sagte Helmut Schmidt und mahnte: "Es bleibt leider wahr, dass wir Menschen verführbar sind. Auch wir Deutschen bleiben verführbar." Daher sei es notwendig, sowohl moralisch als auch politisch aus der Geschichte zu lernen. Aber, so Schmidt zu den Rekruten: "Dieser Staat wird Euch nicht missbrauchen."
Der erste ausländische Staatsgast, der bei einem Gelöbnis sprach, war 2002 der polnische Präsident Aleksander Kwasniewski, in dessen Heimat der Anblick einer deutschen Uniform heute noch Unbehagen auslöst. Kwasniewski würdigte die "friedensstiftende" Bundeswehr, die auf dem Vermächtnis der Widerständler aufbaue. Die Männer rund um Oberst Stauffenberg hätten "wahren Patriotismus und Zivilcourage" bewiesen.
Nicht ganz öffentlich
Zwar wird das Gelöbnis live im Fernsehen übertragen, auf der Tribüne können aber nur ausgewählte Gäste Platz nehmen - Angehörige, Politiker und Soldaten. Wegen diverser Störaktionen in der Vergangenheit - etwa von der antimilitaristischen Bewegung "Gelöbnix" - werden die umliegenden Straßen abgesperrt. Der amüsanteste "Störfall" ereignete sich 2001, als zwei Demonstrantinnen in einer gemieteten Limousine in den abgesperrten Bereich gelangten - sie hatten sich als angebliche Töchter des damaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping durch die Kontrollen geschummelt.