Deutschlands erste Grasernte
12. Juli 2021Die Mitarbeiter der Cannabis-Plantage in Neumünster dürften sich gefreut haben. Immerhin haben sie die erste legale Cannabis-Ernte in der Geschichte Deutschlands eingefahren. Knapp 50 Kilogramm Gras hat das kanadische Unternehmen Aphria RX in seiner hochgesicherten Indoor-Plantage hinter Stahlbeton-Wänden hochgezüchtet und geerntet. Die Sicherheitsvorkehrungen sind massiv, denn Cannabis fällt unter das Betäubungsmittelgesetz.
Von Neumünster im norddeutschen Bundesland Schleswig-Holstein geht die Ware nun an Apotheken in ganz Deutschland und von dort weiter an Menschen, die Cannabis aus medizinischen Gründen nutzen - beispielsweise wegen starker Schmerzen, Spastiken oder Appetitlosigkeit. In den nächsten zwölf Monaten will Aphria eine Tonne ausliefern, so das Unternehmen in einer schriftlichen Antwort an die DW.
Seit 2017 können Ärzte Cannabis zu medizinischen Zwecken verschreiben. Um den Bedarf zu decken, beauftragte das Deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte drei Unternehmen mit dem Anbau von Cannabis. Neben Aphria gehörten auch die kanadische Firma Aurora und das deutsche Start-up Demecan zu den Auserwählten.
Doch bisher scheint Aphria den beiden voraus zu sein. Auf DW-Anfrage blieben die beiden anderen Cannabis-Anbauer vage. Bei Aurora Cannabis sei man derzeit dabei, Pflanzen aus Kanada zu importieren, heißt es auf DW-Anfrage "eine Einschätzung der ersten Auslieferung ist daher nicht möglich." Bei Demecan plane man damit, im dritten Quartal dieses Jahres die Anlage fertigzustellen "und danach so schnell wie möglich die erste Ernte einzufahren." Das Richtfest für die Produktionsstätte soll an diesem Donnerstag gefeiert werden.
Pleiten und Pannen
Eigentlich sollten die Unternehmen schon Ende 2020 das erste Mal liefern. Doch wegen Lieferengpässen durch die Corona-Pandemie mussten sie umdisponieren. Die 50 Kilogramm-Ernte von Aphria sei eher "symbolisch", sagt der Cannabis-Experte Alfredo Pascual im DW-Gespräch. "Beim Anbau in Deutschland haben wir immer wieder Verzögerungen gesehen und wir haben überhaupt keine Sicherheit, wie viel Cannabis überhaupt in nächster Zeit geerntet und geliefert wird", so Pascual, der beim Investmenthaus Seed Innovations den Cannabissektor analysiert. Es komme nun darauf an, was die Firmen tatsächlich liefern könnten.
Auch der Staat trägt eine Mitschuld am schleppenden Anbau in Deutschland. Denn die Ausschreibung, deren drei Gewinner mit Aphria, Aurora und Demecan seit April 2020 feststehen, musste wegen Formfehler zuvor neu ausgeschrieben werden - zum Ärger der Bieter und der zunehmenden Zahl von Patienten.
Die Nachfrage steigt weiter
"Dass nun hier auch geerntet wird, ist ein gutes Zeichen. Es führt dazu, dass sich die Ärzte mehr damit auseinandersetzen", sagt Jürgen Neumeyer vom Branchenverband Cannabiswirtschaft im DW-Interview. Zwar ist Cannabis in der Medizin noch immer ein Nischenprodukt, aber die Nachfrage ist seit der medizinischen Legalisierung konstant gestiegen. Von den Krankenkassen gibt es keine Mengenangaben, doch die abgegebenen Dosen steigen konstant (siehe Grafik). Schätzungen gehen davon aus, dass es mittlerweile in Deutschland bis zu 90.0000 Menschen gibt, die Cannabis zu medizinischen Zwecken nutzen.
Seit der Freigabe 2017 war es immer wieder zu Engpässen gekommen. "Ich sehe nicht, dass der heimische Anbau die Engpässe beheben kann", sagt Neumeyer vom Branchenverband. Er gehe allerdings davon aus, dass der Importbedarf weiter steigt. Das zeigen auch die Zahlen (siehe Grafik). Demnach sind 2020 knapp zehn Tonnen Cannabis importiert worden - ein gutes Drittel mehr als im Jahr davor. Die drei vom Staat beauftragten Unternehmen dürften laut Ausschreibungsunterlagen 2,6 Tonnen im Jahr ernten. Der Staat könnte sie aber unter bestimmten Bedingungen beauftragen, nochmals die Hälfte draufzusatteln.
Bewegung im Cannabis-Markt
Sollten die Unternehmen die vertraglich zugesagte Ernten eines Tages erfüllen, könnte das Einfluss auf dem Markt haben. Da der Staat Auftraggeber ist, bestimmt er auch den Abgabepreis an die Apotheken. Dieser liegt bei 4,3 Euro pro Gramm und damit bei der Hälfte des derzeit üblichen Abgabepreises. Stephan Kramer, Geschäftsführer des Cannabis-Importeurs Heyday, geht davon aus, dass dadurch ein Preisdruck, aber kein Preiskampf entstehen könnte. "Die Preise werden sich in den nächsten zwölf bis 18 Monaten weiter nach unten anpassen in Richtung sieben Euro", schreibt Kramer auf DW-Anfrage.
Auch Cannabis-Analyst Pascual sieht eine mögliche Entwicklung beim Preis: "Wenn tatsächlich ein Viertel des Marktes aus deutschem Anbau kommt, dann ist das schon bedeutend." Der Preisdruck entstehe aber auch dadurch, dass immer mehr Unternehmen nach Deutschland importierten.
Im Ausland produziertes Cannabis sei einfach günstiger, so Kramer. Deshalb setzt er mit seinem Unternehmen Heyday auch auf medizinisches Cannabis aus Portugal. Damit ist er nicht allein: mehr Sonne für die Cannabis-Pflanzen, niedrigere Arbeitskosten und geringere Sicherheitsstandards lassen auch andere Firmen umdenken.
"So lange in Deutschland das Cannabis nur im Bunker angebaut werden darf, gibt es Länder, in denen das deutlich günstiger geht", sagt Branchenkenner Pascual. Es sei sinnvoll, einen Teil der Lieferketten in Deutschland zu haben, dennoch sollte man sich hierzulande mehr auf die Produktion von Cannabis-Extrakten konzentrieren, so Pascual, dessen Arbeitgeber selbst in Extrakte "made in Germany” investiert.
Am Ende sind es vor allem die Patienten, die von steigendem Wettbewerb profitieren könnten. Laut der Techniker-Krankenkasse kann eine Therapie zwischen 200 und 2200 Euro monatlich kosten. Doch in knapp 40 Prozent der Fälle werden Anträge auf Kostenerstattung bei einer Cannabis-Therapie abgewiesen. Für die Selbstzahler könnte sich mehr Bewegung im Cannabis-Markt besonders lohnen.