Flüchtlinge willkommen!
14. April 2014Die Sonne geht gerade erst auf über dem kleinen Dorf Riace an der Südküste Italiens, da sind sie schon längst auf den Beinen: Zwei Männer führen Esel und Karren durch die engen Straßen der Gemeinde. Sie sind Riaces ökologisch-traditionelle Müllabfuhr - und ein besonderes Team.
Denn nur einer der beiden Männer ist Italiener: Romano. Seine Vorfahren haben das Dorf vor rund 1000 Jahren mit aufgebaut. Auf den Hügeln Kalabriens liegt es rund acht Kilometer vom Meer entfernt. So sollte es vor Piratenangriffen geschützt sein. Der Mann, der Romano begleitet, ist Migrant: Daniel. Ein Mann "aus dem Meer" - so sagt man hier in der Region. Wie früher bei den Piraten.
Für viele Italiener stellen Leute wie Daniel noch immer eine Bedrohung dar. In einem anderen kalabrischen Dorf gab es Auseinandersetzungen zwischen alteingesessenen Bewohnern und eingewanderten Arbeitern. Doch in Riace ist das anders: Von den knapp 1700 Bewohnern des Dorfes sind etwa 300 Menschen "aus dem Meer".
Eigentlich kommt Daniel aber aus Ghana. Vor fünf Jahren ist er auf Italiens südlichster Mittelmeerinsel Lampedusa angekommen. "Drei Tage und drei Nächte waren wir in diesem Boot", erzählt er. "Ein wahnsinniges Risiko, was wir eingegangen sind - aber was sollen wir tun? Wir müssen es machen. Und wenn du überlebst, überlebst du..." Daniel weiß, dass er Glück hatte, lebend auf Lampedusa anzukommen. Und er hatte noch mehr Glück, dass es Riace gibt.
Während sich der Rest Europas mit Zäunen und Grenzschützern gegen Flüchtlinge abschottet, lädt das kleine Dorf sie ein, will sie unterstützen. Und so lebt der 32-jährige Daniel heute mit seiner Frau und den zwei Kindern in Riace.
Neues Leben für ein alterndes Dorf
Diese Ecke von Italien ist arm. Die Mafia hat hier das Sagen. Junge Leute verlassen die Region, sobald sie die Chance dazu haben. Auch in Riace zogen die Menschen weg: Die Einwohnerzahl schrumpfte von 3000 auf knapp 800. Domenico Lucano fing an, Migranten anzuwerben. Sie, sagt er, hätten all die Wegzögler ersetzt - und so den Abstieg der Stadt abgewendet. "Früher waren diese Gebäude leer und verfallen", sagt er und zeigt auf die Häuser ringsherum. "Riace war fast schon eine Geisterstadt. Aber wir haben die Häuser wieder aufgebaut. Inzwischen wohnen Familien darin. Und ihretwegen konnten wir die Schule weiterhin geöffnet halten."
Die Migranten seien auch wirtschaftlich wichtig, sagt Lucano: "Sie machen die Jobs, die Italiener nicht mehr machen wollen." Die Einwanderer kümmerten sich um alte Leute oder arbeiteten in den Olivenhainen für die Genossenschaft der Olivenöl-Produzenten. Ein Somalier hat ein Restaurant eröffnet. Andere arbeiten als Übersetzer oder betreiben kleinere Läden und Betriebe - einer stellt zum Beispiel traditionelle Keramik aus Riace her, dekoriert mit dünnen, bunten Streifen.
Wer die alten Männer im Café nach dem Zusammenleben mit all den Einwanderern fragt, bekommt erstmal keine Antwort. Sie winken ab. Erst ein sehr viel jüngerer Mann stellt sich den Fragen. Nur seinen Namen, den will er nicht verraten. "Es ist eine tolle Sache", sagt er. "Riace ist auf einmal wieder voller Menschen. Vorher war es so leer hier." Auch gebe es jetzt mehr Arbeit - denn die Männer aus Riace könnten für die Organisation arbeiten, die die Einwanderer unterstützen. "Allerdings sollten Jobs zunächst an italienische Staatsbürger vergeben werden. Im Moment haben Migranten viel mehr Möglichkeiten als wir!"
Ghandis und Che Guevaras als Währung
Für Marie, eine Afghanin, ist der Job in einer Glaswerkstatt ein Geschenk Gottes. "In Afghanistan war ich fast immer zuhause und konnte nichts tun. Frauen müssen dort zuhause bleiben. Ich bin kaum mal vor die Tür", erzählt sie. Geflüchtet ist sie allerdings aus einem anderen Grund: wegen ihrer drei Kinder. "Meine Älteste, Mariana, fing an, Probleme mit den Taliban zu bekommen. Sie wollten sie verheiraten. Aber sie ist doch erst zwölf Jahre alt!" Seit zehn Monaten ist sie jetzt schon in Riace. Gerade arbeitet sie an einem Mosaik mit einem reitenden Jockey. Es soll im Laden nebenan verkauft werden. Monatlich erhält sie 500 Euro Unterstützung von der Gemeinde, zusätzlich zu den 200 Euro Asylgeld.
Finanzhilfe, die letztlich auch der lokalen Wirtschaft zugute kommt, denn Marie, Daniel und die anderen geben ihr Geld vor allem in kleinen Geschäften im Dorf aus. Weil die Beträge häufig zu spät eintreffen, hat Riace angefangen eigene Banknoten zu drucken - mit Bildern von Martin Luther King, Che Guevara und Ghandi darauf. Die Scheine funktionieren wie normales Geld: Die Asylsuchenden können Lebensmittel kaufen oder Kleidung. Und die Einzelhändler tauschen ihre Ghandis dann beizeiten gegen echte Euros.
Die positive Entwicklung hängt zu großen Teilen von Zuschüssen der italienischen Regierung und der EU ab. Aber sie hat auch mit Menschen zu tun. Solchen wie Bürgermeister Lucano. Bei der jüngsten Wahl kandidierte er mit einem einfachen Slogan: "Die ärmsten Menschen der Welt werden Riace retten - und wir retten sie." Einfach, aber effektiv.