Darf die Ukraine Russland mit deutschen Waffen angreifen?
17. Januar 2024Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 werden ukrainische Städte fast täglich mit Artillerie, Raketen und Drohnen angegriffen. Die Ukraine beschießt im Gegenzug militärische Ziele in den russisch besetzten Gebieten, zum Beispiel auf der Krim.
Aber auch Ziele in Russland selbst werden attackiert, zum Beispiel in der Region um die strategisch wichtige Stadt Belgorod, rund 30 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Am 30. Dezember 2023 kamen nach russischen Angaben in Belgorod 25 Menschen ums Leben.
Vom Völkerrecht gedeckt
Vom Völkerrecht sind diese Angriffe grundsätzlich gedeckt, so Wolff Heintschel von Heinegg, Völkerrechtler an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Bei internationalen bewaffneten Konflikten sei "keine Konfliktpartei verpflichtet, die Feindseligkeiten auf das eigene Territorium zu beschränken", teilte der Völkerrechtler der DW mit. "Im Gegenteil ist es ein legitimes Ziel, die gegnerischen Streitkräfte zu schwächen, mithin diese und andere zulässige militärische Ziele anzugreifen."
Auch wenn dabei Zivilisten getötet werden, ändere das im Prinzip nichts an der Rechtslage, analysiert von Heinegg: "Wenngleich direkte Angriffe gegen Zivilpersonen und zivile Objekte verboten bleiben, bedeutet dies nicht, dass diese nicht in Mitleidenschaft gezogen werden dürfen."
Zwar verbiete das humanitäre Völkerrecht "Angriffe gegen zulässige militärische Ziele, wenn zu erwarten ist, dass der sogenannte Kollateralschaden in einem exzessiven Missverhältnis zum erwarteten militärischen Vorteil steht". Dies sieht von Heinegg bei den ukrainischen Angriffen auf Ziele in Russland nicht gegeben.
Deutsche Waffen gegen verbotenen Angriffskrieg
Ob bei Angriffen auf Russland auch Waffen aus dem Westen eingesetzt wurden, ist unklar. Es ist aber eine entscheidende Frage für die westlichen Unterstützer der Ukraine.
Bundeskanzler Olaf Scholz will dem angegriffenen Land jedenfalls keine Taurus-Marschflugkörper aus Deutschland mit hoher Reichweite liefern. Dahinter steckt offenbar die Sorge, damit könnten Ziele in Russland angegriffen und Deutschlandin den Krieg hineingezogen werden. Auch der Deutsche Bundestag lehnte jetzt mit großer Mehrheit einen entsprechenden Antrag der oppositionellen CDU/CSU-Fraktion ab, der die Bundesregierung aufforderte, "endlich und unverzüglich der Ukraine einsatzbereite 'Taurus'-Marschflugkörper in größtmöglichem Umfang bereitzustellen".
Doch selbst wenn deutsche Waffen bei einem Angriff zum Einsatz kämen, wäre das völkerrechtlich kein Problem, argumentiert Wolff Heintschel von Heinegg. Es handele sich bei der russischen Invasion vom Februar 2022 "um einen eindeutigen Fall eines verbotenen Angriffskriegs, sodass Drittstaaten wie die Bundesrepublik Deutschland (…) dem Opfer der Aggression beistehen dürfen - auch durch die Lieferung von Waffen".
Der Einsatz von aus Deutschland gelieferten Waffen gegen Ziele in der Russischen Föderation, so der Völkerrrechtler, "macht da keinen Unterschied".
Befürworter bei Grünen und der CDU
Nicht nur die Ukraine drängt Deutschland, die Taurus zu liefern. Auch in Deutschland ist der Druck auf den Kanzler, seinen Widerstand aufzugeben, groß.
Sara Nanni, verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, die zur Koalitionsregierung aus SPD, Grünen und FDP gehört, geht aber noch einen Schritt weiter. Im DW-Interview tritt sie ausdrücklich dafür ein, dass die Ukraine russisches Territorium angreifen dürfe, auch mit deutschen Waffen.
Zu den möglichen Folgen für Deutschland sagt sie: "Ich befürchte selbstverständlich immer, dass Russland seinen Krieg auch auf die NATO und somit auch auf Deutschland ausweiten kann. Allerdings hängt das nicht davon ab, was wir liefern oder nicht liefern. Das hängt nur davon ab, was Putin entscheidet."
Ein solch offenes Eintreten ist noch ziemlich neu in Deutschland. Doch auf DW-Nachfrage unterstützt die Idee auch Roderich Kiesewetter, Sicherheitspolitiker der größten Oppositionspartei, der konservativen CDU.
"Angriffe der Ukraine gegen militärische Ziele auf russischem Territorium sind nicht nur völkerrechtlich zulässig, sie sind auch militärstrategisch geboten und absolut sinnvoll", schreibt er der DW.
Ob dabei auch deutsche Waffen eingesetzt würden, hält Kiesewetter für irrelevant, "denn es sind dann ukrainische Waffen. Die Ukraine sollte selbstständig über den Einsatz der ihr zur Verfügung gestellten Waffen entscheiden". Das mache Deutschland nicht zu einem aktiven Kriegsteilnehmer.
Man solle der Ukraine auch keine "Auflagen oder Beschränkungen vorgeben, sondern die effektivste Nutzung der Waffen ermöglichen". Damit widerspricht der CDU-Politiker Gedanken, wie sie angeblich in Regierungskreisen kursieren.
Danach könnte Deutschland der Ukraine zwar die Taurus liefern, aber nur, nachdem man sie in ihrer Reichweite technisch beschränkt hat, und mit der Vorgabe, sie nicht auf Ziele in Russland selbst abzufeuern.
Warnung eines deutschen Ex-Generals
Die größere Frage lautet allerdings, welchen Beitrag sich die Ukraine und Deutschland von den Taurus-Lenkwaffen erhoffen würden, und letztlich, was das Ziel der gesamten Ukraine-Unterstützung ist.
Während Roderich Kiesewetter das ukrainische Ziel, alle russisch besetzten Gebiete einschließlich der Krim zurückzuerobern, für richtig und erfüllbar hält, warnt Brigadegeneral a.D. Helmut Ganser vor Illusionen.
In einem Interview mit "Zeit-Online" erklärte Ganser: "Die Erwartung, dass die Ukraine ihre volle territoriale Integrität mit militärischen Mitteln wiederherstellen kann, fußt im Blick auf den dafür notwendigen übergroßen Kräftebedarf und die abnehmende Unterstützungsbereitschaft in maßgeblichen westlichen Hauptstädten auf einem eklatanten Realitätsverlust."
Ganser spricht von der Gefahr, dass die NATO in den Krieg hineingezogen würde, wenn sie auf einen "ukrainischen Siegfrieden" setze. "Verantwortungsbewusste Sicherheitspolitik, die Schaden von der deutschen Bevölkerung abwenden muss, darf dem nicht folgen."
Bundeskanzler Scholz, dem die Warnung in erster Linie gilt, dürfte sich in seinem Zögern bestätigt fühlen.
Dieser Artikel erschien erstmals am 17.1.2024 und wurde am 19.1.2024 aktualisiert.