Corona setzt Gesundheitssysteme unter Druck
10. Oktober 2020In Europa ist die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals über die Marke von 100.000 gesprungen. Die Intensivstationen der Krankenhäuser füllen sich immer schneller. Die Regierungen sind gezwungen, kontinuierlich über weitere Beschränkungen im täglichen Leben nachzudenken, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. Ein Überblick:
Spanien ist mit insgesamt 850.000 Infektionen besonders betroffen. Die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen lag zuletzt bei 115. In der vergangenen Woche starben nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Freitag 541 Menschen an oder mit COVID-19. Der Anteil der Corona-Patienten in den Krankenhäusern steigt. Landesweit gelten strenge Auflagen, auch eine Maskenpflicht im Freien. Viele Gebiete und Gemeinden sind abgeriegelt. Über die Hauptstadt verhängte die spanische Regierung am Freitag den Notstand. In Madrid und einigen Vororten dürfen die Menschen ihre Wohngemeinde nur mit triftigem Grund verlassen - etwa für den Weg zur Arbeit oder für Arztbesuche. Betroffen sind knapp 4,8 Millionen Menschen. Der Notstand soll zwei Wochen lang gelten.
Frankreich hat in mehreren Großstädten bereits die höchste Corona-Warnstufe verhängt - so in Paris, Lyon, Lille, Grenoble, Saint-Étienne und Marseille. Gesundheitsminister Olivier Véran ist auch über die Lage in den Pariser Krankenhäusern besorgt. Dort nimmt der Anteil der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen zu. Mehr als 40 Prozent der Intensivbetten sind bereits wieder belegt. In den Landesteilen, in denen die Lage besonders ernst ist, reagiert die Regierung etwa mit der Schließung von Bars oder anderen Lokalen. In vielen Städten Frankreichs gilt die Maskenpflicht auch unter freiem Himmel. Generelle Ausgangsbeschränkungen im ganzen Land sollen verhindert werden. Mit 20.339 Corona-Neuinfektionen binnen 24 Stunden gab es am Freitag einen Tageshöchstwert.
Tschechien - ehemals ein Corona-Musterschüler - ist nach den jüngsten Erhebungen der Europäischen Union bei den Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner zum traurigen Spitzenreiter geworden. Im Schnitt steckten sich binnen 14 Tagen 374,6 Menschen je 100.000 Einwohner mit dem Virus an. Am Donnerstag wurden in dem 10,7-Millionen-Einwohner-Land 5394 neue Fälle verzeichnet - der dritte Tagesrekord in Folge. Die Regierung hat Kultur- und Sportveranstaltungen verboten. Sollte die Kurve nicht abflachen, droht nach Ansicht von Experten bald ein dramatischer Engpass im Gesundheitssystem.
Großbritannien hat ebenfalls wieder große Probleme. Es gibt einen Mangel an Tests, ein Flickenteppich an Regelungen, marode Kliniken und steigende Infektionszahlen. Der im Frühjahr selbst erkrankte Premier Boris Johnson steht zunehmend in der Kritik, ein schlechter Krisenmanager zu sein. Seine Regierung spricht von einer "gefährlichen" Lage. Besonders stark betroffen sind der Norden Englands, Schottland, Nordirland und Teile von Wales. Experten zufolge stehen vor allem in Nordengland die Kliniken vor dem Kollaps. Am Freitag meldeten die Behörden landesweit knapp 14.000 neue Fälle.
Italien, das lange Zeit eine niedrige Infektionsrate hatte, registrierte am Freitag 5372 neue Ansteckungen. So viele Neuinfektionen binnen eines Tages hatte es in dem Land zuletzt im April gegeben. Der Regierungsberater und WHO-Vertreter Walter Ricciardi warnte vor einem drohenden Mangel an Krankenhausbetten. "Wir stehen unter extremem Druck", sagte er in einem TV-Interview. Zu befürchten sei ein Anstieg der Infektionsfälle auf bis zu 16.000 pro Tag. Noch sind die Intensivstationen der Krankenhäuser mit annähernd 400 COVID-19-Patienten nicht am Limit. Die Regierung in Rom verschärft ständig die Maßnahmen - nun gilt eine landesweite Maskenpflicht auch im Freien. Besonders stark steigen die Zahlen derzeit in den Regionen Latium, Kampanien und Lombardei.
In Polen muss ebenfalls von diesem Samstag an ein Mund-Nasenschutz auch im Freien getragen werden. In 38 besonders stark betroffenen Gemeinden gelten dann zudem weitere Beschränkungen für Veranstaltungen und Familienfeiern. Die Infektionszahlen waren zuletzt rapide gestiegen; landesweit wurden seit Pandemie-Beginn mehr als 110.000 Ansteckungen gezählt. Regierungschef Mateusz Morawiecki erklärte kürzlich, ohne eine Verschärfung der Maßnahmen drohe alle drei Tage eine Verdopplung der Neuinfektionen.
In den Niederlanden wurden am Freitag knapp 6000 Neuinfektionen gemeldet, ähnlich viele wie auch am Donnerstag. Die Zahl der Patienten in Krankenhäusern und auf Intensivstationen steigt schnell. Kliniken haben die Versorgung für andere Patienten drastisch reduziert und Hunderte Operationen abgesagt. Innerhalb von sieben Tagen infizierten sich zuletzt 841 Menschen je 100.000 Einwohner. Gesichtsmasken sind für öffentliche Räume dringend empfohlen, bislang aber nicht Pflicht.
Belgien verzeichnete zuletzt ebenfalls rasch steigende Zahlen. Die 14-Tage-Inzidenz, also die Zahl an Infektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von zwei Wochen, lag zuletzt bei 280,7. In der Hauptstadt Brüssel sind Cafés und Bars nun für einen Monat geschlossen. Die Regierung verschärfte auch die landesweiten Regeln: Bürger dürfen pro Monat nur noch mit drei Personen außerhalb der Familie engen Kontakt pflegen. Um 23 Uhr ist Sperrstunde.
Deutschland registriert deutlich steigende Infektionszahlen in Großstädten und Ballungszentren. Generell meldeten die Gesundheitsämter dem Robert Koch-Institut (RKI) den zweiten Tag in Folge mehr als 4000 Neuinfektionen. Kanzlerin Angela Merkel und die Chefs von elf Kommunen verständigten sich deshalb auf weitere Maßnahmen. Wenn die Zahl der Neuinfektionen binnen sieben Tagen über 50 pro 100.000 Einwohner steigt, soll es eine erweiterte Maskenpflicht, Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum und gegebenenfalls auch Sperrstunden und Alkoholbeschränkungen geben, wie aus einem Beschlusspapier hervorgeht. In der Hauptstadt Berlin gelten ab sofort wieder strengere Vorgaben für private Feiern. Außerdem gibt es nun eine Sperrstunde. Restaurants, Kneipen und die meisten Geschäfte müssen von 23 Uhr bis 6 Uhr geschlossen sein.
se/ust (dpa, afp, rtr)