Corona-Krise in Deutschland - ein Déjà-vu
11. November 2021894 Tore, 1963 Vorlagen, nicht umsonst war sein Spitzname "The Great One" - Wayne Gretzky gilt bis heute als bester Eishockeyspieler aller Zeiten. Angesprochen auf sein Erfolgsgeheimnis, sagte der Kanadier einmal: "Die meisten Spieler sind ziemlich gut, aber sie laufen dahin, wo der Puck ist. Ich gehe dahin, wo der Puck sein wird."
Deutschland wäre, wenn man so will, eine ziemlich mittelmäßige Eishockeymannschaft, denn auch in der vierten Corona-Welle hechelt das Land dem Puck nur hinterher: Booster-Impfungen für die Über-70-Jährigen - zu spät vorbereitet. Lückenlose Testpflicht in Altenheimen - verschlafen. Stagnierende Impfquote - mehr oder weniger tatenlos hingenommen, sagen Kritiker.
"Wir wollen es jedem recht machen"
"Um im Bild zu bleiben, passen die unstetigen Rahmenbedingungen der Eissporthalle respektive einer Pandemie nicht zu den Stärken der Deutschen. Der Puck verhält sich nicht planbar genug. Spontanität ist keine Stärke der Deutschen, in Krisenzeiten aber oft der Weg zum Erfolg", sagt Frank Roselieb.
"Wir wollen alles planen, jeden mitnehmen und es jedem recht machen - dem Datenschützer bei der Corona-App genauso wie dem Impfskeptiker beim Zögern mit der 2G-Regel in Hochinzidenz-Gebieten. Das kann nicht funktionieren. So wird man kein Eishockey-Weltmeister." Und bekommt offensichtlich Corona auch im zweiten Herbst nicht in den Griff.
Die Zahlen steigen und Deutschland schaut zu
Roselieb ist in den Zeiten der Pandemie zu einem sehr gefragten Mann geworden, denn er leitet das Kieler Institut für Krisenforschung, Spezialgebiet Kommunikation in der Krise. Deutschland ist gerade dabei, den ultimativen Beweis anzutreten, dass es Krise nicht mehr richtig kann: Stand Donnerstag eine Sieben-Tage-Inzidenz von 249 nach Angaben des Robert-Koch-Instituts, 235 Todesfälle innerhalb von 24 Stunden im Zusammenhang mit dem Coronavirus und mehr als 50.000 Neuinfektionen - so viele wie noch nie seit Beginn der Pandemie.
Und das alles trotz der zahlreichen Warnungen der Wissenschaftler im Sommer, dass es genauso kommen würde. Und obwohl es genug Impfstoff gibt, um alle zu schützen.
Wie würde der Krisenexperte jemanden nennen, der ähnliche Fehler immer und immer wieder macht? "Unbelehrbar. Zwar macht Deutschland nicht unbedingt die gleichen Fehler erneut. Es zeigt sich lediglich recht hartnäckig dabei, nicht schnell genug zu lernen und bei Bedarf nicht auch einmal harte, unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen", sagt Roselieb.
"Deutschland ist nach dem beherzten Handeln im März 2020 in den späteren Phasen der Pandemie oft zu zögerlich und überkorrekt vorgegangen. Ein bisschen kontrollierte Diktatur gehört in Krisenzeiten aber zu jeder guten Demokratie dazu. Das können andere Länder deutlich besser."
Ausland macht die Pandemiebekämpfung vor
Frankreich zum Beispiel: Präsident Emmanuel Macron verordnete eine Impfpflicht für Pflegekräfte, setzte einen einheitlichen Corona-Pass durch und initiierte für die 12- bis 17-Jährigen eine massive Impfkampagne. Spanien, nah an der Herdenimmunität, ließ die Menschen anrufen und zur Impfung auffordern. Und in Italien drohen hohe Bußgelder, wenn die Menschen ihren Arbeitsplatz ohne 3-G-Nachweis betreten.
Im Ausland reibt man sich verwundert die Augen beim Blick auf den Zauderer Deutschland. Auf der Landkarte mit den lokalen Inzidenzen färben sich die Rottöne von Tag zu Tag dunkler, bei einer Quote von etwas über 67 Prozent vollständig Geimpften und zu wenigen Genesenen, um die Infektionen zu stoppen.
"Ich habe in den fast 25 Jahren, die ich das jetzt mache, noch nie einen Fall erlebt, wo ein Politiker für übertriebenes oder zu schnelles Handeln bestraft worden ist", sagt Roselieb, "Strafe haben diejenigen abbekommen, die die Hände in den Schoss gelegt und gesagt haben: 'Wird schon gut gehen.' Daher ist eigentlich jeder Politiker durchaus gut beraten, eher zu viel als zu wenig in Krisen- und Katastrophenzeiten zu machen."
Er analysiert: "Viele machen lieber nichts, weil sie schlechte Nachrichten fürchten und dass der Makel der Pandemie an ihnen kleben bleibt."
Flut, Afghanistan, Wahlen - Deutschland verliert Corona aus dem Blick
Das Virus hatte wohl auch deswegen leichtes Spiel, weil Deutschland im Sommer mit seinen Gedanken ganz woanders war: bei der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, dem Debakel um den Afghanistan-Abzug und den Bundestagswahlen. Mit Multi-Tasking, also mehrere Krisen gleichzeitig anzugehen, war die Politik offenbar überfordert.
Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, trifft Corona jetzt auf ein Land in einem Machtvakuum: eine geschäftsführende Regierung, die nicht mehr richtig kann, und eine neue, die mitten in Koalitionsgesprächen steckt und nicht wirklich will.
"Für Deutschland ist das eine ungünstige Zeit, um bei der Corona-Pandemie entscheidungsfähig zu sein. Die alte Regierung fühlt sich nicht mehr richtig zuständig und die neue ist noch nicht funktions- und handlungsfähig. Und das Virus stört sich natürlich nicht an diesem Interregnum, dieser Zwischenzeit", sagt Karl-Rudolf Korte.
"Umarmungsdemokratie": Deutschland "verliebt in runde Tische"
Der Professor für Politikwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen hat sich befasst mit der Frage, welchen Anteil die Politik an der turmhohen vierten Corona-Welle hat. Korte, der hierzulande oft im TV als Wahlanalyst befragt wird, hat ein Buch mit dem Titel "Coronakratie - Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten" herausgegeben. Die Leitfrage: Was macht die Pandemie mit unserem politischen System?
"Wir sind in Deutschland verliebt in runde Tische, alle Beteiligten sollen in einer Umarmungsdemokratie mitgenommen werden. Das dauert länger, sorgt aber für ein hohes Maß an sozialem und gesellschaftlichem Frieden. Der Politik geht es darum, diesen zu erhalten und scheut sich daher, hart durchzugreifen. Sie ist ganz selten in einem Ansagemodus", sagt Korte.
Druck auf die Ungeimpften vergleichsweise lax
Das bedeutet: Deutschland ist das Land, das mit am meisten davor zurückschreckt, eine härtere Gangart gegen Impfskeptiker und -verweigerer zu fahren. Eine Impfpflicht für Pflegerinnen und Pfleger beispielsweise würden diese - in den sowieso schon hoffnungslos unterbesetzten Heimen und Krankenhäusern - mit einer Kündigung beantworten, befürchtete Gesundheitsminister Jens Spahn.
Jetzt hat auch die Wissenschaftsakademie Leopoldina eine Impfpflicht für Lehr- und Pflegekräfte gefordert, Regierungssprecher Steffen Seibert lehnte dies aber umgehend ab .
"Die Regierung muss sich den Vorwurf gefallen lassen, den Druck auf Ungeimpfte nicht schon seit Monaten erhöht zu haben", sagt Korte. Weil die Regierung eine Impfpflicht immer ausgeschlossen hat, steckt sie nun in einem handfesten Dilemma: Die aktuelle Pandemiesituation macht diese für ausgewählte Berufsgruppen eigentlich unumgänglich, aber dann müsste die Politik ihr Wort brechen. "Diese Aussage war falsch, weil man damit frühzeitig Möglichkeiten zerschlagen hat", betont Korte.
Diskussionen um den "Freedom Day"
Es gibt noch mehr Aussagen und Beschlüsse der letzten Wochen und Monate, die so gar nicht zur aktuellen Corona-Lage in Deutschland passen: die von einigen Politikern und Boulevardmedien befeuerte Debatte um den "Freedom Day", die Diskussion um die Beendigung der epidemischen Lage, einerseits die Impfzentren zu schließen und auf der anderen Seite Gratistests abzuschaffen.
Für Kritiker sind das ziemlich viele Fehleinschätzungen. Außer in der Pandemie hätten Politiker auch sonst in Krisenzeiten zu oft daneben gelegen: bei der Flutkatastrophe durch zu wenig Vorkehrungen und Warnungen oder beim Abzug aus Afghanistan - häufig durch Nichtstun.
Es gibt noch einen zweiten berühmten Ausspruch des Eishockey-Spielers Wayne Gretzky, der gerne zitiert wird: "100 Prozent der Schüsse, die Du nicht abgibst, verfehlen ihr Ziel."