Corona: Italien hält sich tapfer
1. Oktober 20201912, zwei Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs, wurde Fatima Negrini geboren. "Ich war eigentlich immer gesund und eine starke Frau", sagt sie heute, drei Monate nach ihrem 108. Geburtstag, im Pflegeheim San Faustino in Mailand. Im April wurde die resolute alte Dame positiv auf COVID-19 getestet. Sie hatte aber keine Symptome. Gott habe sie wohl vergessen, sagt sie laut und klar. "Weil er mich damals nicht zu sich geholt hat. Ich soll noch Gutes tun hier, obwohl ich im Rollstuhl sitze!" Im Mai fiel ein zweiter Covid-Test negativ aus. Fatima Negrini hatte die Krankheit, an der bislang 38.000 ihrer Landsleute starben, überstanden.
"Meiner Familie geht es auch gut", freut sich die mehrfache Urgroßmutter. Ihre drei Söhne sind auch schon 89, 88 und 79 Jahre alt. In Mailand gilt Fatima mit ihrer Widerstandskraft als eine Art Vorbild. Die Zeitung "Corriere della Sera" berichtete über sie. Seither ist sie in ganz Italien beliebt und bekannt. "Genauso bekannt wie Berlusconi", sagt Fatima schmunzelnd. Der ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi hatte sich ebenfalls mit COVID-19 infiziert und überstand die Erkrankung.
Lektionen aus dem Lockdown
Italien hat einen harten Lockdown durchgemacht. "Das war schlimm", erinnert sich Fatima, denn ihre Familie durfte sie nicht besuchen. Inzwischen wurden die Maßnahmen jedoch gelockert. Die Menschen dürfen sich frei bewegen. Maskenpflicht gilt nur in Gebäuden. Draußen müssen Masken nur von 18 Uhr abends bis 6 Uhr in der Frühe auf belebten Plätzen getragen werden. Im Restaurant wird vor Eintritt Fieber gemessen. Namen und Telefonnummern der Gäste werden jedoch nicht erfasst.
Die Infektionsrate in Italien ist anders als in Frankreich oder Spanien relativ niedrig und steigt auch nicht so schnell an wie in den benachbarten Ländern. Am Mittwoch lag die Zahl der täglichen Neuinfektionen bei 1851. Die Krankenhäuser sind nicht überlastet. Nur wenige Patienten liegen auf der Intensivstation. Die Sterblichkeit aufgrund von COVID-19 ist gering.
Woran das liegt? Das fragen sich viele Menschen in den Nachbarländern und im Rest Europas, in dem die Zahlen wieder ansteigen. "Wir sind in Italien noch nicht in einer zweiten Welle", sagt Maria Rita Gismondo. Die Direktorin des COVID-Labors der Universitätsklinik "Sacco" in Mailand meint, die hohen Todeszahlen zu Anfang der Pandemie im März und April seien den Italienern eine Lehre gewesen.
"Wir haben einen Monat gebraucht, bis wir begriffen haben, was vor sich geht und wie sich das Virus verbreitet", sagt sie im Gespräch mit der DW. "Die psychologische Wirkung ist sehr wichtig. In der ersten Phase gab es eine panische Angst vor einer Ansteckung mit COVID. Persönliche Kontakte wurden total abgebrochen. Jetzt fühlen sich die Leute besser und sicherer, weil wir jetzt wissen, dass man die Situation beherrschen kann." Inzwischen, so die Virologin, habe man bessere Behandlungsmethoden, viel mehr Tests und Routine entwickelt. Lagen in der Uni-Klink im April noch 120 Patienten auf der Intensivstation, sind es jetzt nur noch fünf.
"Es war wie ein Tsunami"
In ihrem modernen Labor, in dem rund um die Uhr COVID-Tests ausgewertet werden, erzählt sie, dass die Menschen in Mailand und der Lombardei sich weitestgehend an die Regeln halten: Masken tragen, Hände waschen, Abstand halten. "Ich denke, die Italiener machen das gut und nehmen die Vorsichtsmaßnahmen ernst. Deshalb haben wir im Moment diese relativ gute Lage."
Tatsächlich tragen viele Menschen in Mailand Masken, obwohl es nicht vorgeschrieben ist. Parties von Jugendlichen und Studenten gibt es in der Öffentlichkeit am Abend kaum. Der dafür berühmte Platz vor der Basilika San Lorenzo wird von der Polizei kontrolliert. Auch auf dem großen Platz vor dem Mailänder Dom versammeln sich am Abend nur kleine Grüppchen. Auch hier ist die Polizei präsent.
"Wir wissen, dass wir es schaffen können, wenn wir uns an die Regeln halten", meint die Rettungssanitäterin Vanda Gatti auf die Frage, warum die Infektionszahlen zumindest in Norditalien nur langsam wachsen. Vanda Gatti hat zu Anfang der Pandemie reihenweise COVID-Patienten mit dem Rettungswagen in die Krankenhäuser gefahren - in langen 12-Stunden-Schichten, als freiwillige Helferin neben ihrem normalen Beruf als Kommunikationsberaterin.
"Wir hatten ein traumatisches Erlebnis. Es war wie ein Tsunami. Jetzt sind wir aufmerksamer." Die meisten Italiener hätten ihre Lektion gelernt und würden jetzt mehr auf den anderen achten. Vanda Gatti hofft, dass Italien eine zweite Welle der Pandemie erspart bleibt. Sie hat aber auch Zweifel, denn im Süden sei man viel sorgloser als in der Lombardei rund um Mailand, wo die Hälfte aller italienischen Corona-Toten verzeichnet wurden.
Als ständige Mahnung gilt Professorin Gismondi und Sanitäterin Gatti der Städtische Hauptfriedhof, der nicht weit von der Universitätsklinik entfernt liegt. Dort, auf "Feld 87", sind im März und April in aller Eile Menschen begraben worden, deren Angehörige nicht ermittelt werden oder wegen eigener Erkrankung oder Quarantänebestimmungen kein Begräbnis organisieren konnten. 125 Gräber liegen hier in langen Reihen mit einheitlichen weißen Grabsteinen. Die grobe Erde ist noch aufgewühlt. Gras ist hier bisher noch nicht gewachsen. Erst in zwei Jahren dürfen die Leichen umgebettet werden, schreibt das italienische Seuchengesetz vor. Die Stadt Mailand überlegt jetzt, auf dem Gräberfeld 87 eine Art Mahnmal für die Corona-Pandemie zu errichten.
Nur kein zweiter Lockdown
Die italienischen Behörden wollen einen zweiten Lockdown mit drastischen Ausgangsbeschränkungen und einer stillgelegten Wirtschaft unbedingt vermeiden. Auch die Schulen sollen offen bleiben. Sie werden jetzt mit Corona-Schnelltests ausgestattet, deren Ergebnis schon nach 15 Minuten vorliegt. So soll vermieden werden, dass ganze Klassen, Lehrer und deren Familien in Quarantäne geschickt werden müssen.
"Ein neuer Lockdown würde bedeuten, dass ich wieder mit meiner Familie eingesperrt werde und den ganzen Tag Hausaufgaben machen müsste", sagt Matteo di Mauro Morandi. Der zehnjährige Matteo, der im Norden von Mailand die letzte Grundschulklasse besucht, verdreht bei dem Gedanken die Augen. "Alles, nur nicht wieder einsperren."
Deshalb, so Matteos Schwester Vittoria, würden sich die meisten ihrer Mitschüler auch an die Regeln zur Hygiene halten. Natürlich sei das in der Schule nicht einfach, sagt die 14 Jahre alte Gymnasiastin. Vittoria musste Prüfungen per Videoschalte ablegen, wechselte während der Pandemie sogar die Schule. "Das war besonders schwer, weil man die anderen Kinder ja nicht kennen lernen konnte." Inzwischen treffen sich die Schüler auch wieder in der Freizeit nach der Schule. "Wir haben das Fahrradfahren und draußen Spielen wieder neu entdeckt", meint die Schülerin.
Die Mutter von Matteo und Vittoria, Elena di Mauro Morandi, ist selbst Lehrerin und hat ihre Kinder zuhause unterrichtet. Auch sie möchte eine Wiederholung der Situation im Frühjahr auf jeden Fall vermeiden. Sie hofft, dass sich die Menschen an die Beschränkungen halten, auch wenn sie nerven.
Elena di Mauro Morandi nimmt ihre Katze auf den Arm. Sie war im Lockdown Spielkameradin und Trost für sie und ihre Kinder. Jeden Abend schaut sich Elena die Fernsehnachrichten an. Dann werden die Corona-Zahlen bekannt gegeben. Noch sind sie niedrig. "Ich hoffe, das bleibt so", sagt Elena. Und ihr Sohn Matteo wünscht sich eigentlich nur eines: "Alle Menschen sollen wieder gesund sein und wir müssen hoffentlich nie wieder Masken tragen."