Corona in der EU: Nation gegen Gemeinschaft?
21. März 2020Freies Reisen ohne Grenzkontrollen durch den gesamten Schengen-Raum, ein freier Warenaustausch, Arbeitsmöglichkeiten in der gesamten EU – der Binnenmarkt macht's möglich. Oder besser gesagt: machte. Denn der Binnenmarkt ist nicht mehr. Zwar sieht auch die EU die Möglichkeit vor, dass in streng definierten Ausnahmesituationen Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten wieder kontrolliert werden dürfen. Aber das muss dann einheitlich und abgestimmt geschehen.
Mit dem schnellen Ausbreiten der Corona-Epidemie ist sich jeder Staat selbst der nächste. Einzelne Regierungen haben im Alleingang Grenzkontrollen wieder eingeführt. Andere, wie die polnische, haben ihre Grenzen gleich ganz geschlossen. Wieder andere haben Reiseverbote erlassen oder die Ausfuhr medizinischer Güter begrenzt.
"In Europa sieht man, dass die Solidarität, wenn es ernst wird, nicht funktioniert", klagte am Mittwoch der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Allerdings hat auch seine Regierung einseitig Maßnahmen eingeleitet.
Die Kommission hechelt nur hinterher
"Wir müssen zusammenarbeiten", sagt beschwörend der Mann in Brüssel, der den Rat der Staats- und Regierungschefs zusammenhalten muss, nämlich EU-Ratspräsident Charles Michel. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will die Grenzschließungen immerhin vereinheitlichen - im Nachhinein, nachdem die Nationalstaaten bereits Fakten geschaffen haben. Die Kommission hechelt den Ereignissen hinterher. So war das nicht gedacht in der EU.
"Schuldig macht sich nur, wer nicht handelt", hat Deutschlands Innenminister Horst Seehofer die einseitigen Schritte seines Landes verteidigt. Bis sich die EU auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hat, das dauert ihm und den meisten seiner Amtskollegen einfach zu lange. Und Untätigkeit ist das letzte, was er sich von den Bürgern vorwerfen lassen will.
Es ist nicht mehr nur der grenzüberschreitende Personenverkehr, der weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Auch beim Güterverkehr stockt es immer mehr. Lastwagen stauen sich wegen der Kontrollen an vielen Grenzen. Die Just-in-time-Produktion mit reibungslosen Lieferketten kreuz und quer durch Europa droht zusammenzubrechen – oder ist es längst, weil Werke wegen Corona gleich ganz geschlossen wurden. Hinzu kommt das Problem, dass Grenzpendler nicht mehr ohne weiteres zur Arbeit kommen.
Die Mitgliedsstaaten müssen mitspielen
Kommissionspräsidentin von der Leyen hofft, dass man die Grenzkontrollen innerhalb der Gemeinschaft wieder lockern kann. Falls sich die Einzelstaaten überhaupt darauf einlassen, wäre eine Voraussetzung, dass die EU-Außengrenzen rigoros abgeriegelt werden. Es ist dieselbe Logik wie bei der illegalen Migration: Nur bei wirkungsvoller Kontrolle der Außengrenzen können die Mitgliedsstaaten auf eine Kontrolle der Binnengrenzen verzichten.
Von der Leyen hat vorgeschlagen, dass bis auf wenige Ausnahmen die Einreise in die EU für 30 Tage ausgesetzt wird. Mehr als Vorschläge kann die Kommissionspräsidentin in dieser Sache nicht machen. Ob die Mitgliedsstaaten sie annehmen und dann auch umsetzen, liegt nicht in ihrer Hand. An den EU-Außengrenzen scheint sich bislang nichts geändert zu haben. Dort kontrollieren die Staaten so gut - oder so schlecht - wie vorher. Das ist vielen nicht genug. Sie wollen auf Nummer sicher gehen und lieber selbst kontrollieren. Das gilt auch für Deutschland. Die Kommission ist bescheiden geworden. Zwar erwartete ein Sprecher am Mittwoch, dass die Regierungen die vorgelegten Leitlinien "im Geiste von Kooperation und Solidarität" umsetzen. Diese Leitlinien forderten aber "nicht notwendigerweise die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen".
Während der Binnenmarkt die ureigenste Kompetenz der Kommission ist, fällt die Gesundheitspolitik in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedsstaaten. Was das in Zeiten von Corona bedeutet, bekam anfangs das besonders betroffene Italien zu spüren: Deutschland und Frankreich hatten zunächst die Ausfuhr von Schutzausrüstung nach Italien stark eingeschränkt, um eigene Vorräte anzulegen. Inzwischen erlaubt Deutschland die Lieferungen wieder. Der Kommission bleibt als mögliche Aufgabe in diesem Bereich, dass sie für eine gemeinsame Beschaffung von medizinisch wichtigen Gütern und deren Aufteilung sorgt, damit alle Staaten genug haben.
Wenn's ums Geld geht...
Von der europäischen Ebene erhoffen sich die Regierungen jetzt vor allem Hilfe gegen die drohende Rezession. Werksschließungen, Produktionsstopps und stark einbrechende Aktienmärkte machen einen Wirtschaftsabschwung fast unausweichlich. Erinnerungen an die Finanzkrise von vor gut zehn Jahren werden wach. Damals hatte Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, gesagt, er werde "alles Notwendige" tun, um den Euro zu retten. So soll es auch diesmal sein. Die EZB hat in der Nacht zum Donnerstag ein umfangreiches Notfallprogramm verkündet, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzufedern. Es soll 750 Milliarden Euro umfassen. Bis mindestens zum Jahresende will die Bank damit Staats- und Unternehmensanleihen kaufen. Frankreichs Präsident Macron und Spaniens Ministerpräsident Sánchez haben das begrüßt.
Auf dem Höhepunkt der Eurokrise sahen viele die EZB-Politik kritisch. Das wiederholt sich heute. Markus Ferber, Finanzfachmann der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, warnt: "Selbst das größte Anleihekaufprogramm kann keine zerbrochenen Lieferketten reparieren. Die EZB darf nicht die Schwelle zur monetären Staatsfinanzierung überschreiten." Vor allem müsse das Programm beendet werden, sobald sich die Wirtschaft erhole.
Ganz anders sieht es Fabio De Masi. Dem stellvertretenden Vorsitzenden der Links-Fraktion reichen die Anleihekäufe der EZB nicht aus. Er fordert "eine gemeinsame Corona-Anleihe, um eine erneute Euro-Krise abzuwenden". Die EU-Kommission kündigte unterdessen an, wegen der Corona-Krise in einem nie dagewesenen Schritt die europäischen Regeln für Haushaltsdefizite der Mitgliedstaaten bis auf Weiteres auszusetzen. Erstmalig aktiviere die Behörde "die allgemeine Ausweichklausel" im EU-Stabilitätspakt, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. "Der Schritt bedeutet, dass nationale Regierungen so viel Liquidität wie nötig in die Wirtschaft pumpen können". Zustimmen müssen noch Europas Finanzminister. Sie tagen am Montag.
Nach den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes dürfen die EU-Staaten eigentlich keine Neuverschuldung von mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung ihres Landes zulassen. Ansonsten kann Brüssel ein Defizitverfahren einleiten und gegebenenfalls auch empfindliche Strafen verhängen. Die Gesamtverschuldung sollte zudem nicht höher als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen.
An diesem Freitag verkündete die EU-Kommission die Aktivierung einer Notfallklausel. Alle bisher geltenden fiskalischen Beschränkungen für die Mitgliedsstaaten können so wegen der Corona-Krise vorläufig auszgesetzt werden. Angesichts der Ausmaße der Corona-Krise reicht dies aber absehbar nicht aus. Vor einer Woche hatte die Kommission deshalb angekündigt, sie sei auch bereit weiter zu gehen, "um eine allgemeinere Unterstützung der Haushaltspolitik zu ermöglichen", wenn es zu einem "schweren Wirtschaftsabschwung komme". Dann könnten Haushaltsvorgaben "insgesamt ausgesetzt" werden.
Von der Leyen schloss angesichts der dramatischen Lage auch die gemeinsame Ausgabe von Anleihen durch die Euro-Länder nicht aus. "Wir gucken alle Instrumente an", sagte sie im Deutschlandfunk. "Und das, was hilft, wird eingesetzt." Das gelte auch für sogenannte Corona-Bonds. "Wenn sie helfen, wenn sie richtig strukturiert sind, werden sie eingesetzt."
Nach Angaben aus EU-Kreisen könnten die "Corona-Bonds" aus "gemeinsamen Mitteln der Europäischen Investitionsbank" bestehen, die durch den Euro-Rettungsfonds ESM garantiert werden. Ziel wäre es dabei, Spekulationen gegen Italien wegen der nun weiter steigenden Schuldenlast zu verhindern.
Sonst könnte die drohende Rezession sich zu einer Finanzkrise ausweiten. Dann drohe auch eine Rückkehr der Staatsschuldenkrise, fürchtet der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest. Das würde allerdings auch die schweren Zerwürfnisse innerhalb der EU um mögliche Gegenmaßnahmen wieder aufbrechen lassen. Der gegenwärtige Mangel an Solidarität innerhalb der Gemeinschaft lässt für dieses Szenario wenig Gutes erwarten.