Lost in Paris
9. Mai 2021Als Sabrina Reitnauer im vergangenen September ihr Auslandsstudium an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris startete, hatte sie klare Erwartungen an das Leben in der französischen Hauptstadt. "Museumsbesuche, großartige Kulturprogramme, viel Kunst, natürlich Studentenpartys und viele Möglichkeiten, neue Leute kennenzulernen." Wenige Wochen vor dem Ende des Semesters sitzt die 20-Jährige in ihrer 35 Quadratmeter großen WG vor den Toren von Paris, büffelt für die Klausuren und kann kaum etwas von dieser Liste abhaken. Reitnauer und ihre Kommilitonen sind gefangen im Hochschullockdown.
Dabei hatten ihre ersten Wochen in Frankreich noch vielversprechend begonnen. Präsenzveranstaltungen in der Uni, geöffnete Cafés: Das Leben in Paris versprach für Pandemie-Zeiten ein Maximum an Normalität. Doch schon Ende Oktober ging Frankreich in den Lockdown und die Hochschulen wechselten zur Online-Lehre - das Schicksal der meisten Studierenden in Europa.
Während die französische Regierung den Schulen in den vergangenen Monaten nur einen kurzen Lockdown zumutete, wurden die Einschränkungen an den Hochschulen bislang nur minimal gelockert: "Wir dürfen einmal pro Woche für eine Stunde zu Veranstaltungen in die Uni. Für jeden Kurs gibt es allerdings die Beschränkung, dass man maximal an zwei Tagen im Semester Präsenzunterricht haben darf." Die deutsch-französischen Studien, die Reitnauer in einem Programm der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH) belegt, erschließt sich die Deutsche also vor allem virtuell.
Protestwelle gegen die Regierung
Die strikten Maßnahmen an den Hochschulen haben in Frankreich zu massiven Protesten von Studierenden geführt. Nachdem die junge Generation zu Jahresbeginn auf die Straße gegangen war, reagierte Präsident Emmanuel Macron mit einem staatlichen Hilfsprogramm: Studierende profitieren seitdem von Ein-Euro-Mahlzeiten in den Mensen und Gutscheinen für kostenlose Psychologen-Besuche.
Sabrina Reitnauer finanziert die Hälfte ihrer Miete mit Nachhilfeunterricht für einen Schüler in Deutschland - per Videokonferenz. Hinzu kommen die Unterstützung durch das Erasmusprogramm der EU und ein Stipendium der Deutsch-Französischen Hochschule. Auf die Ein-Euro-Mahlzeiten ist die Studentin daher nicht angewiesen - sie kocht in ihrer WG lieber zusammen mit Freunden, um der sozialen Isolation zu entkommen. "Zahlreiche französische Kommilitonen", berichtet Reitnauer, "sind aber zurück zu den Eltern in die Provinz gezogen." Sie verfolgen den Online-Unterricht nun aus ihren alten Kinderzimmern.
Frankreichs "Phantom-Studenten"
Dass die Regierung nach dem kurzen Lockdown im April Kindergärten und Schulen wieder geöffnet und die nächsten Öffnungsschritte für Cafés und Museen für Mitte Mai angekündigt hat, verstärkt nun den Frust an den Unis. Unter dem Hashtag #etudiantsfantomes klagen junge Leute in den Sozialen Netzwerken über eine Generation, die aus ihrer Sicht vom Staat geopfert wird.
Wie stark die Studierenden unter den Einschränkungen leiden, belegen auch zwei aktuelle Studien. So kam eine Untersuchung der Fondation Panthéon-Paris 1 Sorbonne zu dem Ergebnis, dass die in Frankreich mittlerweile weit verbreitete Lebensmittelunterstützung für Studierende überproportional Studentinnen trifft - die Frauen also unter der Krise besonders leiden. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitut ifop zeichnet zudem das Bild einer Generation der 16 bis 28-Jährigen, der die Folgen der Pandemie massiv zu schaffen macht. Die soziale Isolation bezeichneten 31 Prozent der Befragten als schwer auszuhalten - 39 Prozent belastet die Tatsache, dass sie nicht mehr ausgehen können.
Auch andere Untersuchungen legen nahe, dass die Studierenden deutlich schlechter mit der Pandemie zurechtkommen als ältere Generationen - ihr Leben hat sich besonders brutal gewandelt. Eine Serie von Suiziden unter Studenten sorgte vor wenigen Wochen ebenfalls für eine breite Debatte in Frankreich.
"Die Jugend hat der Lebensmut verlassen"
Ob die Hochschulen nach den Semesterferien im Herbst wieder in den normalen Betrieb zurückgehen können, ist einstweilen offen. Schnell abschütteln lässt sich das Corona-Trauma aber wohl ohnehin nicht - geht es doch weit über die Hochschulen hinaus. Lisa Ouss, Kinder- und Jugendpsychiaterin am renommierten Pariser Kinderkrankenhaus Necker, berichtet in einem Interview mit der Tageszeitung "Le Figaro" von einem dramatischen Mangel an Krankenhausbetten in ihrem Bereich. Es fehle derzeit sogar an Betten, um alle Kinder- und Jugendlichen aufzunehmen, die einen Suizidversuch unternommen haben.
"Wir verzeichnen eine Vervielfachung von Suizidversuchen und auch eine entsprechende Inanspruchnahme von Hilfsangeboten. Das betrifft alle Altersklassen: von Kleinkindern bis zu Studierenden", so Ouss. Die ernüchternde Bilanz der Ärztin: "Die Jugend hat der Lebensmut verlassen."
Paris ohne Touristen
Schwierige Phasen hat auch Sabrina Reitnauer in Paris erlebt - sie spricht von einem schmalen Grat, auf dem sie balancieren muss. Besonders im Lockdown, als sie sich nur einen Kilometer im Umkreis der Wohnung bewegen durfte, sei das Leben hart gewesen. Aber die 20-Jährige betont lieber die positiven Erfahrungen. Gerade in ihrem kleinen Studiengang schweiße die Pandemie-Erfahrung zusammen. Man versuche, soviel Zeit wie möglich in Kleingruppen gemeinsam zu verbringen. Und Paris im Lockdown habe auch durchaus seinen Reiz: "Die Stadt ist sehr leer. Es ist teilweise sehr, sehr ruhig. Ich habe auf meinen Spaziergängen durch Paris Ecken gesehen, die man mit den Menschenmassen in normalen Zeiten so nicht sehen würde."
Erinnerungen an Paris, die bleiben werden, wenn es nach dem Sommer wieder zurück nach Deutschland geht. Und noch etwas wird wohl bleiben: der technologische Sprung, den die Pandemie erzwungen hat. Online-Seminare sind zur Selbstverständlichkeit geworden, die Technik überbrückt Distanzen und ermöglicht auch neue Erfahrungen. Das hat die Saarländerin in dieser Woche wieder feststellen können. Als Vertreterin ihres Studiengangs war sie an einer Online-Video-Debatte zwischen den Wirtschaftsministern aus Deutschland und Frankreich beteiligt. "Eine großartige Erfahrung", bilanziert sie rückblickend. Zumal die Minister sich Zeit genommen haben, auf die Anliegen der jungen Generation persönlich einzugehen.