Delta: Haben die Impfstoffe die Mutation verursacht?
10. Juli 2021In Großbritannien stiegen die Corona-Fallzahlen zuletzt rapide an, 95 Prozent der sequenzierten Fälle lassen sich auf die Delta-Variante zurückführen. Dabei sind dort bereits zwei Drittel der Bevölkerung durchgeimpft. Für manche passt das nicht zusammen: Wie kann sich die Mutation trotz hoher Impfquoten so schnell ausbreiten? Impfgegner nutzen diese Situation für ihre Zwecke: So verbreitet die deutsche Kleinstpartei "Die Basis" in den sozialen Medien Spekulationen, wonach die Delta-Mutation möglicherweise erst durch die Corona-Impfungen entstanden sei, freilich ohne Belege für diese Theorie zu liefern. Andere Accounts legen Experten ähnliche Aussagen in den Mund. Unser Faktencheck prüft die Behauptungen.
Wie entstehen Mutationen überhaupt?
Viren schleusen ihre Erbinformationen in eine Wirtszelle ein, um sich zu vermehren. Bei jeder Reproduktion treten kleine Kopierfehler auf und jeder dieser Fehler verändert auch den genetischen Code des Virus -es mutiert also ständig und das ist ganz normal.
Manchmal machen diese Mutationen das Virus effektiver, etwa wenn es sich Immunreaktionen wie durch Impfungen oder durchgemachte Erkrankungen entzieht, manchmal machen sie das Virus weniger effektiv, schwächen es also ab. Und oft haben sie überhaupt keinen Auswirkungen. In der Evolution der Virus-Mutationen gilt: Die stärkste Variante setzt sich durch. Beim Coronavirus bedeutet das, dass Varianten, die beispielsweise infektiöser sind, die weniger gefährlichen Formen des Virus verdrängen.
Was macht die Delta-Variante aus?
Die genauen Funktionen der Delta-Mutationen sind bisher nicht wissenschaftlich erforscht. Bisher bekannt sei aber, dass die Mutationen dem Virus erlauben, sich einfacher an die Zellen der Menschen zu binden und einigen Immunreaktionen zu entgehen, sagt Deepti Gurdasani, klinische Epidemiologin an der Queen Mary University of London, im DW-Interview. Die Delta-Variantehat mehrere Mutationen.
Peggy Riese, Wissenschaftlerin am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, sagt zudem, dass bisher herausgefunden wurde, dass die Delta-Mutation zu einer höheren Viruslast führt, beispielsweise im Rachen. Das bestätigen auch weitere Wissenschaftler, die die DW befragt hat.
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Was bedeutet Immunflucht?
Wenn das Virus so mutiert, dass Antikörper, die beispielsweise bei Geimpften oder Genesenen gegen das Ursprungsvirus wirksam waren, eine neue Variante schlechter bekämpfen können, handelt es sich um eine sogenannte Immunflucht ("Immune Escape"). Durch diese können sich Menschen gegebenenfalls trotz Impfung oder überstandener COVID-19-Erkrankungen weiter infizieren und auch erkranken.
Ist die Delta-Variante eine solche Immunflucht?
Die Delta-Variante hebt sich sowohl durch eine höhere Übertragbarkeit als auch durch eine Immunflucht hervor. "Die Mutation reduziert die Wirkung einiger Antikörper und damit auch die Erkennung durch das Immunsystem", sagt Immunologe Georg Behrens, Professor an der Medizinischen Hochschule Hannover bei der Klinik für Rheumatologie und Immunologie, im Gespräch mit der DW. "Es ist aber noch keine wirkliche Immunflucht, die würde sich viel stärker bemerkbar machen", erklärt die Infektionsforscherin Peggy Riese.
Bedeutet: Die Immunflucht ist eben nicht so stark, dass die zugelassenen Impfstoffe nutzlos werden. Im Gegenteil: Erste Studienergebnisse zeigen, dass die Delta-Variante zwar prinzipiell resistenter gegen die Impfstoffe ist - aber gerade eine vollständige Impfung weiterhin stark vor dieser Variante schützt. Dennoch entwickeln Hersteller wie BioNTech/Pfizer bereits neue Versionen des Impfstoffes, der wirksamer gegen die Delta-Variante sein soll.
Verursachen Impfungen Virusmutationen?
Es seien nicht die Geimpften, die neue Fluchtmutationen und Varianten entstehen lassen haben, sondern die Ungeimpften, stellt der Virologe Friedemann Weber von der Justus-Liebig-Universität Gießen im DW-Interview klar: "Es waren die Infizierten, die die neue Variante des Virus, eine Immunflucht des Virus ausgebrütet haben." Dies zeige der Blick nach Indien, Brasilien und Südafrika. Dort seien die nun verbreiteten Mutationen entstanden und der Prozentsatz an Geimpften sei dort jeweils sehr gering gewesen.
In allen drei Ländern war das Coronavirus zum mutmaßlichen Entstehungszeitpunkt der Mutationen weit verbreitet. Dies sei "der Nährboden" für neue Mutationen, sagt Weber, denn das Virus nutze die bei vielen Infizierten geschwächte Immunabwehr, um sich besser anzupassen und die Immunabwehr zu umgehen.
Auch umgekehrt betrachtet lässt sich die Behauptung als zumindest irreführend entlarven: Wenn Impfungen die Wahrscheinlichkeit massiv erhöhen würden, dass ein Virus mutiert, dann würden in Ländern wie Israel oder Großbritannien, wo viele Menschen bereits geimpft sind, bereits neue Virusmutationen auftreten, erklärt Peggy Riese. "Dies ist aber überhaupt nicht der Fall. Die Virusmutationen treten genau in den Ländern auf, wo es noch keine hohe (Anm. d. Red.: Impf-)Quote gibt und sehr viele Menschen sich auf engem Raum begegnen", sagt sie im DW-Gespräch.
Theoretisch bestehe aber dennoch die Möglichkeit, dass Impfungen einen immunologischen Druck auf das Virus ausüben, sagt Georg Behrens. "Dann versucht es durch eine solche Mutation eben diesem Druck zu entkommen." Denn aktuell trifft das Virus auf noch nur teilweise geimpfte Bevölkerungen. Dadurch haben einige Menschen eine Immunantwort, andere bieten noch die Möglichkeit, sich anzustecken. "Das ist das, was das Virus liebt", sagt Behrens. "Und dann kann es auch noch weitere Mutationen geben. Damit trainiert sich das Virus sozusagen."
Zusammengefasst können Impfungen in seltenen Fällen Mutationen entstehen lassen und auch ihre Verbreitung theoretisch begünstigen, viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass gefährliche Mutationen dort entstehen, wo sich ein Virus ungehindert und schnell verbreiten kann.