Britische Öffnungsstrategie ist "unmoralisch"
10. Juli 2021Der große Tag naht. Am 19. Juli, so hat es Premierminister Boris Johnson angekündigt, sollen in England so gut wie alle Einschränkungen fallen, die seit Beginn der Pandemie eingesetzt wurden, um dem Coronavirus Herr zu werden. Wer positiv getestet wird, muss auch nach dem 19. Juli noch in Quarantäne und Besucher in Altenheimen müssen weiterhin Maske tragen. Aber das war's dann auch mit den Regeln.
Clubs dürfen wieder öffnen, es gibt keine Obergrenze mehr für die Anzahl von Gästen bei Privatveranstaltungen wie Hochzeiten, und auch Kinos, Restaurants und Theater dürfen wieder unbegrenzt Menschen einlassen. Außer in Seniorenheimen ist dann auch die Maskenpflicht passé, genauso wie die Empfehlung, von Zuhause aus zu arbeiten.
Die britische Regierung werde nicht mehr auf verpflichtende Einschränkungen bauen, erklärte Johnson in einem Statement, sondern "den Menschen erlauben, ihre eigenen, gut informierten Entscheidungen darüber zu treffen, wie sie mit dem Virus umgehen".
Die Ankündigung gilt jedoch nur für England, da Gesundheitsfragen in der Verantwortung der einzelnen Landesteile des Vereinigten Königreichs liegen. Wales, Nordirland und Schottland entscheiden unabhängig davon über ihre Corona-Regeln.
"Ich würde bis zur Herdenimmunität warten"
Die Öffnung, die am 12. Juli final entschieden werden soll, ist hoch umstritten. Sich zu diesem Zeitpunkt als Regierung zurückzuziehen und alles dem Einzelnen zu überlassen, sei gefährlich, sagt US-Epidemiologe Edwin Michael. "Ich würde mit der Öffnung warten, bis 80 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, und sich Herdenimmunität aufbauen kann", so Michael, der am Center for Global Health Infectious Disease Research an der University of South Florida in den USA forscht.
Nach Angaben der britischen Regierung vom 5. Juli sind aktuell 64 Prozent aller Erwachsenen in Großbritannien vollständig geimpft. Jugendliche sind hier nicht berücksichtigt. Das findet Michael besonders bedenklich - aber dazu später mehr.
Besorgniserregende Projektionen
Auch aus Deutschland kommen kritische Stimmen zur geplanten Öffnung Großbritanniens. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach wirft Johnson vor, Experimente mit Menschenleben zu machen. "Wenn es scheitert, sollte er Rücktritt erwägen", schreibt der Bundestagsabgeordnete bei Twitter.
Wie auch Johnson selbst betont, wird die Pandemie am 19. Juli noch nicht vorbei sein. Aktuell steigen die Fallzahlen in Großbritannien vor allem wegen der hochansteckenden Delta-Variante wieder. "Bis zum 19. Juli könnten wir bei 50.000 täglichen Neuinfektionen angelangt sein", so der Premierminister. Auch die Krankenhäuser im Land füllen sich wieder.
Und die Situation könnte sich noch verschlimmern. Das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) an der University of Washington in den USA sagt voraus, dass, sollte es so weitergehen, wie aus der aktuellen Situation und der geplanten Öffnung abgeleitet werden kann, Großbritannien Ende September jeden Tag auf fast 105.000 Neuinfektionen kommen könnte. Mit flächendeckender Nutzung des Mund-Nase-Schutzes läge diese Zahl laut IHME bei rund 5500. Aber die Maskenpflicht schafft das Land ja nun ab.
Die Anzahl der täglichen Todesfälle im Land aufgrund von COVID-19 läge Ende September laut der aktuellen IHME-Projektion bei knapp 300. Mit flächendeckender Maskennutzung läge sie bei rund 12.
Jugendliche zahlen den Preis
Auch aufgrund dieser Zahlen hält Michael den aktuellen Öffnungsplan für "leichtsinnig und unmoralisch" - und zwar vor allem gegenüber einer bestimmten Altersgruppe.
"Das Virus wird sich hauptsächlich unter den Unter-18-Jährigen verbreiten", sagt der Epidemiologe. "Denn das sind die Menschen, die noch nicht geimpft sind. Die Regierung findet es also in Ordnung, dass junge Menschen das Risiko tragen. Wie werden [die jungen Betroffenen] in 30, 40 Jahren entschädigt, wenn sich vielleicht die Langzeitfolgen von Long-COVID zeigen? Sie zahlen den Preis für diesen Öffnungsplan."
Aber auch für den Rest der Bevölkerung Großbritanniens und darüber hinaus könnte sich das Ende der Einschränkungen zu einer Katastrophe entwickeln.
"Wenn sich das Virus uneingeschränkt ausbreiten kann, könnten neue Mutationen entstehen", sagt Michael. "Die aktuellen Varianten sind ansteckender, aber nicht tödlicher. Aber was ist, wenn eine neue Mutation ansteckender, tödlicher und dann auch noch resistent gegen unsere Impfstoffe ist?"
Der Epidemiologe sagt, auch er wolle keinen endlosen Lockdown, und er könne verstehen, dass viele Einrichtungen wie Theater und Restaurants aus Existenzangst auf die Öffnung drängen. Aber, so Michael, die britische Regierung sollte trotzdem einen Punkt des Öffnungsplans nochmal gründlich überdenken: "Ich wünschte, sie würden um Himmels Willen wenigstens die Maskenpflicht beibehalten!"
Korrektur am 10. Juli 2021: In einer früheren Version des Artikels wurde der Eindruck erweckt, dass die Corona-Regeln im gesamten Vereinigten Königreich nahezu vollständig aufgehoben werden sollen. Dies ist nicht korrekt, da darüber jeder Landesteil für sich entscheidet. Die Ankündigung von Premierminister Boris Johnson betrifft nur England. Dies haben wir korrigiert. Die Redaktion bittet, den Fehler zu entschuldigen.