Indiens Sorge vor der dritten Corona-Welle
19. Juni 2021Obwohl in Indien die Fallzahlen sinken und Maßnahmen gelockert werden, warnen Experten, dass das Land noch einen langen Weg vor sich hat, um das Coronavirus unter Kontrolle zu bekommen.
Nachdem die Krise sich im April und Mai zuspitzte, bauten viele Staaten ihre Gesundheitsinfrastruktur aus - mit der notwendigen medizinischen Ausstattung, mit Medikamenten und einem Ausbau der Intensivbetten.
Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle im April und Anfang Mai gab es oft mehr als 400.000 Neuinfektionen pro Tag. An diesem Donnerstag meldete Indien aber nur 62.480 Fälle, ein starker Rückgang im Vergleich zum vorherigen Monat.
Doch viele machen sich Sorgen, dass dem Land eine dritte Welle bevorstehen könnte. Denn die Impfkampagne kommt nur langsam in Gang und neue Varianten könnten sich entwickeln und verbreiten. Außerdem kämpft Indien weiter mit einem akuten Mangel an Sauerstoff und Medizin, während viele Patienten vor Krankenhäusern sterben, weil es nicht genug Betten gibt.
Vor allem Kinder sollen beschützt werden
Arvind Kejriwal, der Regierungschef von Delhi, kündigte die Gründung einer pädiatrischen Task-Force und zweier Laboratorien zur Genomsequenzierung an. Es soll auch einen Plan geben, um die Sauerstoffkapazitäten in seinem Unionsterritorium zu verstärken. Die Welle traf diese Region besonders stark.
Sollte es zu einer dritten Welle kommen, werde diese vor allem Kinder treffen. Deswegen will auch der westindische Bundesstaat Maharashtra die Anzahl an COVID-19-Betten in der Pädiatrie erhöhen, von 600 auf 2.300. Das Finanzzentrum Mumbai versucht jetzt schon, mehr Beatmungsgeräte, Monitore und anderes medizinisches Equipment zu beschaffen.
"Wir sind bereit. Wir haben vier COVID-Pflegestationen mit pädiatrischen Einheiten, in denen mehr als tausend Kinder behandelt werden können", sagte Iqbal Sinhgh Chahal, Mumbais Kommunalbeauftragter, gegenüber der DW.
Auch der ostindische Bundesstaat Jharkhand hat einen neuen Plan angekündigt: 20 pädiatrische Intensivbetten sollen in jedem Bezirk eingerichtet werden. Außerdem sollen alle Krankenzentren, die sich eigentlich um die Versorgung Unterernährter kümmern sollen, so umgewandelt werden, dass sie COVID-Patienten intensiver pflegen können als normale Krankenstationen. Der Plan ermittelt auch, welche wichtigen Ressourcen und Medikamente die jüngeren Altersgruppen brauchen."Ich glaube, wir sind für eine mögliche dritte Welle besser vorbereitet. Es könnte zu Engpässen kommen, aber die Krankenhäuser und Behörden haben präventiv gehandelt", so Priscilla Rupali, eine Spezialistin für Infektionskrankheiten am Christian Medical College in Jharkhands Hauptstadt Ranchi.
Impfen, um eine dritte Welle zu verhindern
Um die dritte Welle zu brechen, wollen Virologen und Wissenschaftler vor allem vulnerable Gruppen impfen und Genome zirkulierender Varianten sequenzieren.
"Die langsame Impfkampagne ist ein Problem. So entstehen mehr Varianten, und eine dritte Welle könnte uns vor anderen entwickelten Ländern treffen, weil es hier noch viele ungeschützte Menschen gibt", erklärte Vineeta Bal, eine Wissenschaftlerin des nationalen Immunologie-Instituts. "Nicht nur Kinder sind in der nächsten Welle gefährdet, weil sie noch nicht geimpft sein werden, sondern auch Menschen anderer Altersgruppen und schwangere Frauen", so Bal.
Obwohl Indien sich das ambitionierte Ziel gesetzt hat, bis Dezember mehr als zwei Milliarden COVID-19-Impfdosen herzustellen - genug, um die Mehrheit der Bevölkerung zu impfen - geht die Impfkampagne nur schleppend voran. Offiziellen Zahlen zufolge sind bislang lediglich elf Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft, nur 3,4 Prozent haben bereits beide Dosen bekommen.
"Um die ganze Bevölkerung zu impfen, brauchen wir mehr Vorrat und geschultes Personal", sagte Bal.
Neue Varianten könnten eine dritte Welle verursachen
Die zweite Welle hat vor allem die Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante vorangetrieben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Variante bereits als "besorgniserregend" eingestuft.
"Die zweite Welle hat das System überwältigt. Wir müssten mindestens neun bis zehn Millionen Menschen pro Tag impfen und das Virus aggressiv zurückdrängen", so der Epidemiologe Giridhar Babu. "Diese Welle war nicht heftig, weil das Virus tödlicher wurde, sondern weil es infektiöser und leichter zu übertragen war."
Shally Awathi, ein Kinderpneumologe der King George's Medical University in Lucknow, sieht Indien dennoch für die Zukunft gut gerüstet. "Die zweite Welle hat uns eine wichtige Lektion erteilt. Wir haben diesmal mehr Sauerstoff in unseren Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Ich glaube, wir müssen nicht in Panik geraten", erklärte er gegenüber der DW.
Indien hat im Mai fast 120.000 Todesfälle und mehr als 9 Millionen Neuinfektionen gemeldet, doch Experten glauben, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist. Seit dem Beginn der Pandemie hat das Land fast 30 Millionen Infektionen und 380.000 Todesfälle gemeldet.