CHIO Aachen: Mehr Transparenz beim Pferdewohl
30. Juni 2023Der Schutz der Pferde ist im Reitsport im Grunde genommen eindeutig geregelt: "Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen", heißt es in Paragraph eins des Tierschutzgesetzes, das die Grundlage der Regeln der Reitverbände bildet. In Paragraph drei wird außerdem festgelegt, dass es verboten ist, einem Tier "Leistungen abzuverlangen, denen es wegen seines Zustandes offensichtlich nicht gewachsen ist oder die offensichtlich seine Kräfte übersteigen".
Emotionale Diskussion
Allerdings sind Betrachtung und Auslegung der Paragraphen in bestimmten Fällen alles andere als eindeutig. Denn was Pferdesportler als zumutbar einstufen und als unproblematische Anforderung für das Pferd ansehen, wird von anderen ganz anders empfunden. Die Diskussion - auch in den sozialen Netzwerken - wird meist sehr emotional geführt. Manches Mal sind diejenigen am lautesten, die nicht unbedingt das größte Pferdefachwissen besitzen. Eine gemeinsame Basis für einen wirklichen Austausch von Argumenten gibt es oft nicht.
Eine Organisation, die den Reitsport zwar kritisch, aber nicht voreingenommen betrachtet, ist der Deutsche Tierschutzbund. Der Tierschutzbund lehnt den Reitsport - auch den Turniersport - nicht generell ab, sieht aber an vielen Stellen deutliches Verbesserungspotential. "Die meisten Regeln im Pferdesport haben Hand und Fuß, allerdings mangelt er sehr eindrücklich an der Durchsetzung", sagt Andrea Mihali im Gespräch mit der DW. Sie ist Tierärztin und arbeitet beim Deutschen Tierschutzbund als Fachexpertin für Pferde. "Es gibt zwar Stewards und Richter an den Vorbereitungsplätzen, die ziehen sich die Reiter und Reiterinnen aber oft nicht raus, wenn gegen die Regularien verstoßen wird. Und Regularien sind ja nur insofern hilfreich, wenn man sie auch konsequent anwendet", sagt Mihali.
Man sehe auf den Vorbereitungsplätze und auch während der Turnierprüfungen immer wieder Pferde, die minutenlang in Rollkur geritten werden. [Anm.d.Red.: der Begriff Rollkur bezeichnet das Herunterziehen des Pferdekopfes mit Hilfe der Zügel in Richtung Brust. Dabei wird der Hals des Pferdes stark gedehnt.] "Die Tiere zeigen deutlich einen Ausdruck von Unbehagen, zum Teil auch von Angst", sagt Mihali. Es gebe Pferde, die am Maul bluteten, aber dennoch nicht aus dem Wettbewerb genommen würden. "Oft wird auch das Vermögen des Pferdes überschätzt", so Mihali.
Wissenschaftliche Daten zum Wohlbefinden der Pferde
Um mehr Transparenz in der Frage: "Fühlen sich die Tiere wohl oder nicht?" zu schaffen, hat der CHIO Aachen, Deutschlands größte Pferdesportveranstaltung und eines der renommiertesten Turniere der Welt, eine neue Initiative ins Leben gerufen, den "Scientist Circle". Mithilfe wissenschaftlicher Daten soll das Wohlbefinden der Pferde während des Turniers objektiv gemessen werden. "Für uns ist es ganz wichtig, den Sport in eine gute Zukunft zu führen", erklärt Birgit Rosenberg, Sportchefin beim CHIO Aachen. "Dabei steht an oberster Stelle immer das Wohlergehen der Pferde. Von daher sehen wir uns da in der Verpflichtung, einen Beitrag zu leisten."
An der Pilotstudie werden zunächst sechs Pferde teilnehmen. Fünf starten in der Vielseitigkeit, die aus den Teilprüfungen Dressur, Geländeritt und Springen besteht, das sechste Pferd ist Emilio, 17-jähriger Wallach der mehrfachen Dressur-Olympiasiegerin Isabell Werth. "Wir möchten gemeinsam der Frage nachgehen, wie es Sportpferden bei Wettkampfveranstaltungen geht und was genau sie benötigen, damit ihr Wohlergehen nachhaltig sichergestellt werden kann", erklärt Dirk Winter, Professor für Pferdewirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in Nürtingen bei Stuttgart.
Er führt das Projekt gemeinsam mit Pferdefachleuten und führenden Wissenschaftlern aus Deutschland, Belgien und der Schweiz durch. Die Fragen, die geklärt werden sollen, sind: Welche Bedürfnisse haben die Pferde? Wie reisen sie komfortabel? Welche Art der Unterbringung empfinden sie als angenehm? Wann und in welchen Situationen empfinden sie Stress?
Gehirnströme - vor, während und nach Belastung
Die Untersuchungsmethoden, die zum Einsatz kommen, sind unter anderem Langzeitbeobachtungen mit Kameras zum Verhalten und zum Schlafrhythmus in der Box, dazu die chemische Analyse des Gehalts am Stresshormon Cortisol im Pferdekot. Beides wird im Vergleich zu Messungen und Beobachtungen ausgewertet, die vorher im heimatlichen Stall unter Ruhebedingungen vorgenommen wurden. Bei Dressurpferd Emilio werden über eine spezielle Kopfhaube die Gehirnströme gemessen - vor, während und nach der Prüfung.
"Die Auswertung wird uns erste Hinweise dazu geben, welche Gehirnströme bei Pferden während einer Belastungsintensität und während einer Veranstaltung zu erkennen sind", sagt Dirk Winter. "Die Ergebnisse sollen uns erste Hinweise dazu geben, was möglicherweise erforderlich ist, um den Wohlbehalt der Pferde noch weiter zu verbessern."
Auch die deutsche Vielseitigkeitsreiterin Anna Siemer hat sich sofort bereit erklärt, mit ihrem Pferd bei der Studie mitzumachen. "Je entspannter mein Pferd ist und je besser sie das ins Turnier mitnehmen kann, umso besser werden dann auch die Leistungen", sagt Siemer, die sich nicht nur Hinweise im Bezug auf Angst und Stress erhofft. Im Gegenteil: "Ich möchte auch herausfinden, wieviel Freude mein Pferd hat, wenn es zum Beispiel in ein Wasserhindernis reitet", sagt sie. "Ich bin mir ganz sicher, dass Pferde, wenn sie eine besonders gute Leistung gebracht haben, das auch wissen und das auch mit raustragen können. Da erhoffe ich mir auch Erkenntnisse."
Erste Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen, deren Auswertung danach ein paar Monate dauern wird. Spannend wird sein, wie der Pferdesport reagiert, wenn bei der Datenerhebung herauskommt, dass die Pferde bei Prüfungen im Dressurviereck, auf dem Springreit-Parcours oder auf der Geländestrecke tatsächlich einem nicht zu tolerierenden Stresslevel ausgesetzt sind. Ebenso spannend dürfte die Reaktion vehementer Tierschützer sein, wenn das nicht der Fall sein sollte. Das hinterher Einigkeit herrscht, ist aber nicht zu erwarten.
Verantwortung liegt bei Reiterinnen und Reitern
Denn klar ist, dass die Untersuchungen beim Turnier in Aachen quasi unter Idealbedingungen stattfinden. Kaum ein Turnier der Welt bietet einen so guten Rahmen wie der CHIO - sei es in puncto Unterbringung der Tiere, Platzangebot, Trainingsmöglichkeiten, Bodenbeschaffenheit und sonstiger Betreuung. Messungen wie in Aachen auch bei Turnieren durchzuführen, die die Standards des Tierschutzes nicht so perfekt erfüllen wie der CHIO, würde sicherlich aussagekräftigere Ergebnisse liefern. Zwar soll das Projekt künftig auch auf andere Veranstaltungen ausgeweitet werden, doch das ist noch Zukunftsmusik.
Bis dahin liegt die Verantwortung für die Pferde vor allem bei den Reiterinnen und Reitern, schließlich kennen sie - neben den Pflegerinnen und Pflegern - die Tiere am besten und sollten daher auch am genauesten einschätzen können, ob der nächste Sprung, die nächste Prüfung, das nächste Hindernis noch zumutbar ist, oder ob man - zum Wohl des Pferdes - doch lieber abbricht oder verzichtet.