Chinas Billig-Exporte stressen Asiens Schwellenländer
17. Juli 2024Brasilien tut es, genauso wie die Türkei, Südkorea oder Thailand. All diese Länder wehren sich mit Importzöllen oder Zusatzsteuern gegen billigen chinesischen Stahl, Elektroautos oder einfache Konsumgüter aus der Volksrepublik, die den einheimischen Produzenten das Leben schwer machen. Erst unlängst sorgte Indonesien für Schlagzeilen, als von geplanten Strafzöllen gegen chinesische Textilimporte in Höhe von 200 Prozent die Rede war.
"Der Protektionismus gegen chinesische Billigimporte war bisher ein westliches Phänomen, bei dem Asien weitgehend Zuschauer war. Das ändert sich gerade", betont Sonal Varma, Chef-Ökonomin für Asien bei der japanischen Investmentbank Nomura. Im Finanzmagazin Nikkei Asia listet sie die Herausforderungen für die politischen Entscheidungsträger in Asien auf, um einheimische Unternehmen und Jobs vor Billig-Importen aus China zu schützen.
Und dabei geht es längst nicht mehr nur um Stahl oder chinesische Elektroautos. Genauso wie in Europa strömen konkurrenzlos billige Waren chinesischer E-Commerce-Plattformen wie AliExpress auf die Märkte in Vietnam, Thailand oder Südkorea. Dazu kommen chinesische Vorprodukte für die Metall- oder Chemiebranche, die einheimische Unternehmen durch ihre günstigen Preise unter Druck setzen.
Schon lange werfen vor allem die USA der Regierung in Peking vor, wegen der schlecht laufenden Binnenkonjunktur in der Volksrepublik gewaltige chinesische Überkapazitäten auf die internationalen Märkte zu werfen. Erst vor wenigen Tagen hatte China mit einem Plus von 4,7 Prozent für das zweite Quartal enttäuschende Wachstumszahlen vorgelegt. Ökonomen hatten 5,1 Prozent erwartet.
Für Lynn Song, Chefökonom der ING Bank für Greater China, zeigen die aktuellen BIP-Daten, dass der Weg zum Erreichen des Regierungsziels von fünf Prozent Wachstum schwierig bleibe. Fallende Immobilien- und Aktienpreise, ein niedriges Lohnwachstum und Angst um den Job bremsten den Konsum. "Dies führte zu einer Abkehr von teuren Anschaffungen hin zu einem Basis-Konsum mit dem Schwerpunkt Essen, Trinken und Spielen", so Song. Die Folge: Noch mehr Güter "made in China", die im Inland nicht gekauft werden, landen auf dem Weltmarkt.
Thema bei G7-Treffen
Auch beim Treffen der G7-Handelsminister in Italien geht es um den Umgang mit den Warenströmen aus dem Reich der Mitte, resiliente Lieferketten und die großen Überkapazitäten chinesischer Industrieunternehmen.
Gerade erst führten die USA strengere Regeln für Stahl- und Aluminiumimporte aus Mexiko ein, um zu verhindern, dass chinesische Waren über Drittländer wie Mexiko importiert werden und bestehende US-Zölle unterlaufen.
Das Problem dabei: Werden immer mehr Zölle im Rest der Welt erhoben, steigt auch der Druck auf die Schwellenländer in Asien. Etwa wenn die USA und die EU Importzölle auf chinesische E-Autos erheben oder in Lateinamerika chinesischer Stahl mit neuen Zöllen belegt wird. Wenigstens ein Teil dieses zusätzlichen Warenangebots werde zwangsläufig nach Asien umgeleitet, betont Sonal Varma.
Schon jetzt wurden bis April 2024 mit 312.000 Fahrzeugen mehr chinesische Elektroautos nach Asien exportiert als nach Europa (266.000), so aktuelle Zahlen der China Passenger Car Association.
Laut Nomura-Ökonomin Varma bleibt Indien oder den Ländern der ASEAN-Staatengruppe künftig kaum etwas anderes übrig, als ihre Länder vor Chinas industriellem Überschuss zu schützen - und vor Waren, die zu unfairen Preisen auf ihre Märkte geworfen werden.
Kritik an Narrativ
Für Deborah Elms ist das Narrativ der chinesischen Überkapazitäten jedoch mit Vorsicht zu genießen. Die Leiterin des Bereichs Handelspolitik der Hinrich Foundation in Singapur, die sich für freien Welthandel einsetzt, ruft zur Vorsicht auf.
"Überkapazitäten bei was? Bei welchen Produkten? Für den Verkauf auf welchen Märkten?", fragt sie. "Denn die Daten deuten nicht auf weit verbreitete Überkapazitäten hin. Die Tatsache, dass China viel exportiert, ist für sich genommen noch kein Beweis für ein Überkapazitätsproblem", so Elms gegenüber der DW. "Der größte Teil Asiens exportiert ebenfalls, doch hört man in der Regel keine Klagen über Überkapazitäten, die beispielsweise gegen ASEAN-Mitglieder oder Australien vorgebracht werden. Wir müssen viel vorsichtiger sein, bevor wir eine Geschichte über Überkapazitäten wiederholen", fordert die Handels-Expertin.
Weil China in Asien der größte Exporteur und Importeur von Waren ist, mache das die Situation kompliziert. Die Lieferketten in der Region verliefen in mehrere Richtungen. "Rohstoffe können aus den ASEAN-Staaten oder anderen asiatischen Ländern zur Verarbeitung nach China geschickt werden. Teile und Komponenten können in beide Richtungen fließen", so Elms.
Außerdem finde die Endmontage von Produkten häufig an verschiedenen Orten statt und fertige Waren aus der Region würden nach China ein- und ausgeführt.
Chinas Wachstumsschwäche kurbelt Exporte an
Für die Handelsexperten der Rhodium Group, einem Analysehaus aus New York, sind Chinas Überkapazitäten allerdings mehr als ein Narrativ. In ihrer Studie "How China's Overcapacity holds back Emerging Economies" haben Camille Boullenois und Charles Austin Jordan untersucht, wie stark der Mix aus staatlich stimuliertem Industriewachstum und lahmender Nachfrage in China die internationalen Warenströme verändert hat.
"Seit 2019 haben die schwache Inlandsnachfrage und der Ausbau der Industriekapazitäten dazu geführt, dass Chinas Handelsbilanzüberschuss im verarbeitenden Gewerbe immer größer wird", argumentieren sie.
Schwellenländer zunehmend betroffen
Mittlerweile leiden nicht nur Industrieländer unter Chinas Überkapazitäten, sondern auch Entwicklungs- und Schwellenländer. "Während die wachsenden chinesischen Exporte den Entwicklungsländern bis zu einem gewissen Grad zugutekommen, indem sie Vorprodukte für die eigene Industrie bereitstellen, tragen sie auch zu Chinas steigender Marktmacht bei und machen die Entwicklungsländer verwundbar", schreiben die Rhodium-Autoren.
Bislang ging man davon aus, dass Schwellenländer wie Indien profitieren würden, wenn China stärker auf höherwertige Produkte setzt statt auf billige Massenware. Schwellenländer könnten dann Industriegüter in alle Welt liefern, die bislang China produzierte.
Diese Hoffnungen hätten sich in Luft aufgelöst, weil Peking nicht fähig sei, die Binnennachfrage anzukurbeln. Erst dann könnten mehr Waren vom chinesischen Markt absorbiert werden, statt nach Indien oder in die ASEAN-Staaten exportiert zu werden, so Boullenois und Jordan.
Solange Peking keine ernsthaften Reformen in Angriff nimmt, um die Binnennachfrage zu stimulieren, sehe es schlecht aus für Entwicklungs- und Schwellenländer. Ihnen drohe, so die Rhodium-Autoren, durch die chinesischen Überkapazitäten aus dem Industriegeschäft gedrängt zu werden und zunehmend abhängig von China zu werden.
Beispiel Stahl
Mittlerweile stammt die Hälfte des weltweit produzierten Stahls aus China. Und je weniger dieser Stahl im eigenen Land - etwa im Immobiliensektor - verbaut wird, desto mehr exportiert die Volksrepublik. Seit 2021, als Pekings knallharte Corona-Lockdownpolitik mit Fabrikschließungen die Stahlpreise in Rekordhöhen getrieben hatte, wird Stahl immer billiger.
"Chinas Probleme im Immobiliensektor seit 2021 haben zu enormen Überkapazitäten und einem Einbruch der Weltmarktpreise geführt, was nun zu erheblichem Druck auf Produzenten in Indien, Vietnam, Brasilien und anderen Ländern führt. Chinas Exporte von Stahlerzeugnissen steigen wieder an - um 27 Prozent im Jahr 2024, nach 35 Prozent Wachstum im letzten Jahr", schreiben die Rhodium-Autoren.
"Angesichts der Herausforderung, den heimischen Fertigungssektor und eigene Jobs zu schützen, können asiatische Politiker nicht untätig bleiben", fordert Sonal Varma. "Sie müssen in ihren Ländern gleiche Wettbewerbsbedingungen gegenüber China schaffen."
To-Do-Liste für die Politik
Sie empfiehlt den politischen Entscheidern in Asien einen Mix aus Maßnahmen, wie die Stärkung eigener industrieller Ökosysteme. Dazu gehören laut Varma konkrete Vorgaben für den Anteil lokaler Wertschöpfung und steuerliche Nachlässe für Produkte, die im eigenen Land hergestellt werden.
Wie die westlichen Industrieländer sollten auch asiatische Länder ihre Lieferketten diversifizieren, um ihre große Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen - etwa in der Elektronikbranche - zurückzufahren. So will Südkorea im Rahmen der nationalen "Strategie 3050" die Abhängigkeit bei 185 Importartikeln bis 2030 um 50 Prozent reduzieren.
Außerdem sollten sich die Länder Asiens verstärkt um ausländische Direktinvestitionen bemühen, die nicht aus China, sondern aus dem Rest der Welt kommen. Denn je mehr die USA und die EU ihre De-Risking-Politik gegenüber China ausweiten, "werden Handel und Investitionen, die über Drittländer abgewickelt werden, verstärkt unter die Lupe genommen", so Sonal Varma.
Sie ist davon überzeugt, dass der zunehmende Protektionismus des Westens gegenüber China und das anhaltende Problem chinesischer Überkapazitäten Asien vor neue Herausforderungen stellt, die "einen protektionistischen Dominoeffekt in weiteren Ländern auslösen dürften".
Am Ende gehe es schlicht und einfach um den Schutz einheimischer Unternehmen und Jobs.