Chance für unerwartete Verbündete
16. Juni 2014Das Sprichwort "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" galt jahrzehntelang fast durchgehend für die Beziehungen zwischen Washington und Teheran. Doch der schnelle und brutale Aufstieg der islamistischen Gruppe ISIS im Irak hat plötzlich sowohl in den USA als auch im Iran die traditionellen strategischen Überlegungen verändert.
Keines der beiden Ländern möchte, dass der Irak zerfällt und sich in noch größerem Maße zu einer Brutstätte der sektiererischen Gewalt entwickelt, als er es seit der US-Invasion 2003 ohnehin schon ist. Insofern ist es nur logisch, dass Washington und Teheran darüber diskutieren, wie sie gemeinsam gegen die Ausbreitung von ISIS im Irak vorgehen können. "Das hätten sie schon vor einiger Zeit tun sollen - aber besser spät als nie", sagt Rouzbeh Parsi, Iran-Experte an der Lund-Universität in Schweden. "In einer so extremen Situation verschwindet die Ideologie aus der Rhetorik und beide Seiten müssen sich auf die Fakten konzentrieren."
Amerikanisch-iranische Arbeitsteilung?
Zwar hat keine der beiden Seiten bislang erklärt, wie eine mögliche militärische Kooperation gegen ISIS aussehen könnte, doch der Rahmen dafür scheint klar: Grob gesagt wäre Washington für die Luftunterstützung zuständig, während Teheran die Augen und Ohren am Boden darstellen würde. Da US-Präsident Barack Obama ausgeschlossen hat, Truppen in den Irak zu schicken, könnten die USA mit Hilfe von Drohnen Luftangriffe gegen die ISIS-Kämpfer fliegen und die irakischen Einheiten mit Informationen versorgen. Der Iran könnte seine engen Verbindungen zu den verschiedenen Schiiten-Milizen nutzen, um über die Vorgänge am Boden genau zu informieren. Teheran könnte zudem eine begrenzte Anzahl an Spezialeinheiten der Revolutionsgarden in das Nachbarland entsenden.
Im Vergleich zu der militärischen Kooperation wäre die politische Seite eines Vorgehens gegen die Extremisten von ISIS für Washington und Teheran deutlich schwieriger. Denn sie müssten den irakischen Premier Nouri al-Maliki in die richtige Bahn lenken: Sein anti-sunnitischer Regierungsstil gehört zu den zentralen Auslösern der aktuellen Krise.
Malikis Politik als Streitpunkt
"Das wird ein Streitpunkt. Denn die USA haben Maliki für seine Politik der Spaltung im Irak nicht zur Rechenschaft gezogen. Und das hat zu Spannungen zwischen den USA und Saudi-Arabien geführt", sagt Lina Khatib, Direktorin des Carnegie Middle East Center in Beirut. "Wenn die USA in Bezug auf diese Politik von Maliki weiterhin ein Auge zudrücken, wird Saudi-Arabien kritisieren, dass jede amerikanisch-iranische Kooperation gegen ISIS dem irakischen Premier politisch in die Hände spielt."
Außerdem habe Teheran viel in die Maliki-Regierung und den ganzen Aufbau der irakischen Politik investiert, gibt Iran-Experte Parsi zu bedenken. Damit es eines Tages einen zumindest annähernd stabilen und tragfähigen Irak gibt, müssten die USA und der Iran Maliki dazu drängen, seine anti-sunnitische Haltung zu ändern. Zusätzlich müsse Saudi-Arabien, das jahrelang einen Stellvertreterkrieg mit dem Iran in der Region - auch im Irak - geführt habe, auf konstruktive Weise in den Prozess miteinbezogen werden.
"Auf lange Sicht muss also die schiitisch dominierte Regierung des Irak dazu gebracht werden, die Sunniten miteinzubeziehen. Gleichzeitig sollten die Saudis helfen, indem sie den Sunniten klarmachen, dass keine sunnitischen Milizen finanziert werden, um dann im Irak Krieg zu führen", sagt Parsi.
Ein neues Kapitel in den bilateralen Beziehungen
Beide Experten sind überzeugt, dass es ohne die USA und den Iran nicht möglich ist, die Terrorgruppe ISIS aufzuhalten. "Ich bin allerdings nicht sicher, ob wir - selbst mit Hilfe einer amerikanisch-iranischen Kooperation - eine echte Niederlage von ISIS erleben werden", gibt Khatib zu bedenken. "Dennoch kann jede Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und dem Iran für die Stabilität im Nahen Osten nur positiv sein. Und ich hoffe sehr, dass die aktuelle Krise beide Seiten zu einem politischen Kompromiss bringen könnte, durch den Gruppen wie ISIS die Existenzberechtigung und die Möglichkeit weiter zu expandieren entzogen würde."
Unabhängig von den möglichen militärischen und politischen Ergebnissen sei die aktuelle Krise eine einzigartige Chance für Teheran und Washington, "ein neues Kapitel" in ihren bilateralen Beziehungen aufzuschlagen, so Khatib: "Die Eroberung der Stadt Mossul durch ISIS kann als Motivation für den Iran und die USA betrachtet werden, sich auf eine Beziehung mit mehr Offenheit einzulassen und die bilateralen Verhandlungen voranzubringen."