Chabarowsk fordert den Kreml heraus
14. Juli 2020In Wladimir Putins Russland gibt es selten politische Überraschungen. Wenn sie doch vorkommen, dann meistens vom Präsidenten gewollt. Keine Überraschung war zum Beispiel die jüngste Verfassungsreform, die seine ohnehin starke Macht festigt und ihm weitere Amtszeiten ermöglicht. Die Volksabstimmung darüber wurde auch als Zustimmung für Putin und seine Politik dargestellt. Kaum zwei Wochen danach wird der Kremlchef plötzlich herausgefordert. Nach der Verhaftung eines Gouverneurs in der Region Chabarowsk im Fernen Osten gibt es dort täglich Protestkundgebungen. Bei der bisher größten Aktion in der Geschichte der Stadt Chabarowsk gingen am vergangenen Samstag zehntausende Menschen auf die Straße. Auch Sprechchöre wie "Putin muss weg" oder "Putin ist ein Dieb" sind zu hören. Was ist passiert?
Überraschung im äußersten Osten Russlands
Auslöser für die Proteste war die Verhaftung des beliebten Gouverneurs Sergej Furgal am 10. Juli. Ermittler in Moskau erheben schwere Vorwürfe gegen ihn: Der Politiker soll Auftraggeber der Ermordung von zwei Geschäftsleuten vor rund 15 Jahren gewesen sein. Er bestreitet das.
Die Region Chabarowsk liegt im äußersten Osten Russlands an der Pazifikküste, von der gleichnamigen Stadt ist es nicht weit bis zur Grenze nach China. Das stark von Forstwirtschaft und Fischerei geprägte Gebiet mit rund 1,3 Millionen Einwohnern gilt nicht gerade als eine Hochburg der Opposition wie etwa Moskau. Und doch sorgte Chabarowsk im Herbst 2018 für eine kleine politische Sensation: Bei der Gouverneurswahl wurde der Amtsinhaber von der Kreml-Partei Geeintes Russland abgewählt. Der Sieger kam von der Opposition und hieß Sergej Furgal.
Wer ist der verhaftete Gouverneur Sergej Furgal?
Der 50-jährige Sergej Furgal gehört der rechtspopulistischen LDPR-Partei an, die mit ihrem Anführer Wladimir Schirinowski formell zwar in der Opposition ist, faktisch jedoch die Politik des Kreml stützt. Im Fernen Osten Russlands hat die Partei besonders viele Anhänger und dominiert in einigen Regionen. Als Gouverneur trat Furgal stets freundlich und volksnah auf, baute Bürokratie ab und kümmerte sich um Sozialpolitik, sagt Ruslan Ibragimow, ein 29-jähriger Unternehmer aus Chabarowsk, gegenüber der DW. "Er hat zum Beispiel für ermäßigte Flugtickets und besseres Essen in Schulen gesorgt", erzählt Ibragimow, der auch an Protesten teilnimmt. Auch die Dienstleistungen der Behörden seien besser geworden.
Dass der Kreml Furgals Wahlsieg 2018 nicht einfach so hinnahm, zeigte sich bereits wenige Monate nach seinem Amtsantritt. So zumindest haben manche Bürger Putins Entscheidung interpretiert, die Hauptstadt des gesamten Fernen Ostens von Chabarowsk nach Wladiwostok zu verlegen. "Das hat damals weh getan, doch die Menschen haben es geschluckt", erinnert sich Ibragimow. "Was jetzt geschehen ist, konnte das Volk aber nicht mehr aushalten."
Damit meint er Furgals Verhaftung. In Chabarowsk wird spekuliert, dass es um Rache des Kreml handeln könnte - auch für die Abstimmungsergebnisse bei der jetzigen Verfassungsreform. Denn mehr als ein Drittel der Bewohner der Region (37 Prozent) hatte gegen Putins Projekt gestimmt, deutlich mehr als im russischen Durchschnitt (21 Prozent).
Fabian Burkhardt vom Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg glaubt nicht an einen Rachefeldzug nach dem Verfassungsreferendum. Er hat eine andere mögliche Erklärung. "Ich denke, der Grund ist die absolute Dominanz von Furgals Partei, der LDPR, im Regionalparlament und im Stadtrat", sagt der Wissenschaftler der DW. Diese Dominanz sei dem Kreml seit langem ein Dorn in Auge und er versuche, "das LDPR-System an der Wurzel auszureißen und die Kontrolle wiederzubekommen".
Der Kreml betont die Meinungsfreiheit - noch
Noch reagiert der Kreml auffällig zurückhaltend auf die Proteste. Die Aufmärsche gegen die Festnahme von Furgal sind nicht genehmigt, und üblicherweise greift russische Polizei in solchen Fällen schnell und hart durch. Diesmal aber hält sie sich zurück und bekam dafür am Dienstag sogar Lob von Putins Sprecher Dmitri Peskow. Es sei gut, dass es "keine Provokationen und keine Vorfälle" gegeben habe. Einen Tag zuvor sprach Putins Vertreter in der Region, Juri Trutnew, einen für Russland seltenen Satz aus: "Die Menschen haben das Recht, ihre Meinung zu äußern."
Politische Beobachter wie Nikolai Petrow aus Moskau sind überrascht, allerdings nicht von den Protesten, "sondern von der Tatsache, dass der Kreml damit nicht gerechnet hatte". Moskau schätze die Lage in der Provinz "nicht adäquat genug" ein, so der Experte gegenüber der DW. Bei der "brutalen Entfernung" von Furgal habe Russlands Führung "den Bogen unnötig überspannt". "In einer solchen Situation kann der Kreml nicht zurückrudern. Es gibt keinen Ausweg ohne Verluste mehr", glaubt Petrow. Sein Ausblick: Am Ende werde der Kreml seinen Machtanspruch doch vorführen.