Koloniale Aufarbeitung: Deutsche Zurückhaltung in Tansania
13. Juni 2023Ein eindrückliches Mahnmal für die deutsch-tansanische Geschichte findet sich im Berliner Museum für Naturkunde. Mit über dreizehn Metern Höhe ist der Brachiosaurus Brancai (heute wissenschaftlich korrekt: Giraffatitan Brancai) eines der weltweit größten rekonstruierten Dinosaurierskelette.
Anfang des 20. Jahrhunderts gruben es deutsche Paläontologen und ihre afrikanischen Helfer in der Nähe des für seine Fossilien berühmten Tandaguru Hill in der Region Lindi im heutigen Tansania aus. Seit seiner ersten Ausstellung im Jahr 1937 begeistert das Skelett Schulklassen und Berlin-Besucher - aber nur wenige wissen um seine Geschichte und seine Bedeutung als Symbol für die überfällige Aufarbeitung von Deutschlands kolonialer Vergangenheit.
Auch Philemon Mtoi hat den Dino auf seiner Reiseliste. Der tansanische Historiker promoviert zurzeit an der Universität Bonn. Er findet, das Skelett sei illegal nach Berlin gelangt. "Dieses Tier stammt nicht aus Deutschland. Ich denke also, es sollte in seinem Ursprungsland ausgestellt werden", sagt Mtoi.
Schließlich handele es sich hier um eines der ganz besonderen Tiere der Weltgeschichte - ein Publikumsmagnet, der auch in seinem Heimatland Tansania Touristen anlocken dürfte: "Viele Menschen kommen, um sich diese Rekonstruktion im Berliner Museum anzusehen. Aber dem Land, in dem es gefunden wurde, bringt es nichts ein."
Dialog über Rückführung
Seit seiner Kindheit kennt Mtoi aus seiner Heimat Diskussionen um die mögliche Rückkehr solch symbolträchtiger geschichtlicher Zeugnisse - und zwar nicht nur den wertvollen Dinosaurier-Fund, sondern auch menschliche Gebeine. So gibt es auch Gespräche zwischen Vertretern beider Staaten und betroffener Museen über eine mögliche Rückgabe von Hunderten menschlichen Schädeln. Deutsche Forscher hatten sie von ostafrikanischen Friedhöfen stehlen lassen, um daran anthropologische Untersuchungen vorzunehmen - im Zusammenhang mit heute unzulässigen Rassentheorien -
"Das sind sehr wichtige Diskussionen", sagt Mtoi der DW. "Wenn Menschen miteinander reden, bietet sich die Chance, einen Dialog zu beginnen, der zu einem positiven Ende gebracht werden kann." Wenn aber nicht geredet werde, könne das zu einer feindseligen Atmosphäre führen.
Maji-Maji-Krieg: Sevim Dagdelen fordert Dialog mit Nachfahren der Opfer
Eine, die mit dem Ton der politischen Debatte um Deutschlands koloniale Vergangenheit nicht zufrieden ist, ist die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Fraktion Die Linke). Sie fordert einen aktiveren Umgang der Bundesregierung mit der deutschen Kolonialschuld zwischen 1885 und 1918. "Wer wie Bundeskanzler Olaf Scholz einen Neustart der Beziehungen mit den Staaten Afrikas propagiert, darf die politische wie juristische Aufarbeitung von Kolonialverbrechen nicht auszusitzen versuchen", so die deutsche Oppositionspolitikerin zur DW.
Die Bundestagsabgeordnete zeigt sich unzufrieden mit der Antwort auf eine Kleine Anfrage, die Dagdelen mit ihren Parteifreunden, der kleinsten Oppositionsfraktion im Bundestag, an die Bundesregierung gestellt hatte. Andreas Michaelis, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, verweist darin auf die Entwicklungen der letzten Jahre: "In Hinblick auf die Rückführung menschlicher Überreste und die Rückgabe von Kulturgütern liegen Verhandlungsangebote vor und die Bundesregierung befürwortet einen diesbezüglichen Dialog mit der tansanischen Regierung", heißt es in der Antwort der Bundesregierung.
Eine wesentliche Frage Dagdelens bleibt hingegen im Kern unbeantwortet: Sie bezieht sich auf den Maji-Maji-Krieg, bei dem deutsche Kolonialtruppen zwischen 1905 und 1908 einen Aufstand aus der bäuerlichen Bevölkerung Südtansanias blutig niederschlugen. Äcker wurden verbrannt und Menschen dem Hunger ausgesetzt. Bis zu 300.000 Menschen kamen dabei nach aktuellen Erkenntnissen ums Leben. Der Bundesregierung sei die Art der Niederschlagung bekannt, heißt es in der Antwort.
Auf die Frage, ob diese Ereignisse aus heutiger Sicht als Kriegsverbrechen oder Völkermord bezeichnet werden könnten - wie im Falle Namibias geschehen - heißt es lediglich, man stelle sich "der moralischen und politischen Verantwortung". Die Regierung verweist auf "vertrauensvolle Gespräche" mit der tansanischen Regierung. Ein Sondergesandter sei hingegen nicht vorgesehen.
Angst vor "Präzedenzfall" Namibia
All dies gehört aber für Sevim Dagdelen zu einem konstruktiven und zielgerichteten Dialog dazu. Hier wünscht sich die Linken-Politikerin, dass Lehren aus der Aufarbeitung des Völkermords an namibischen Herero und Nama gezogen werden. Dort haben es beide Regierungen zwar zu einer gemeinsamen Erklärung gebracht, doch diese ist vonseiten Namibias noch nicht ratifiziert - nicht zuletzt aufgrund massiven Widerstands aus dem Lager der Betroffenen, die sich übergangen fühlen: "Anders als im Fall Namibias praktiziert, sollte die Bundesregierung in enger Abstimmung mit der Regierung Tansanias auch die Nachfahren der Opfer bzw. der vom Völkermord besonders betroffenen Gemeinschaften von Anfang an aufrichtig berücksichtigen und den Dialog suchen."
Für den Historiker Jürgen Zimmerer von der Universität Hamburg zeigt das Ausweichen der Bundesregierung vor allem eines: "Man hat Angst vor Präzedenzfällen, wenn man koloniale Gewalt im Zusammenhang mit Wiedergutmachung oder Entschuldigung offiziell anerkennt." Denn es stünden auch Wiedergutmachungsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg im Raum - und hier werde sehr genau beobachtet, wie die Debatten um die Anerkennung kolonialen Unrechts ausgehen, sagt Zimmerer im DW-Gespräch. "Und jetzt will man auf jeden Fall vermeiden, dass man in Namibia anerkennt, was dann auch für andere Fälle gelten könnte."
Politik der Scheibchen
Immerhin: Auf der Ebene deutscher Sammlungen bemüht sich die Bundesregierung zuletzt um einen offensiven Umgang mit Deutschlands kolonialer Vergangenheit. Erst vergangenen Dezember reiste Außenministerin Annalena Baerbock zusammen mit Kulturstaatssekretärin Claudia Roth nach Nigeria, um einige Benin-Bronzen von hohem symbolischem Wert an Nigeria zu übergeben.
Anders als Tansania war Nigeria nie deutsche Kolonie. Die Bronzen waren von britischen Soldaten aus dem Königreich Benin, das heute zu Nigeria gehört, geplündert und dann an deutsche Museen verkauft worden. Es sind die ersten von 1130 Benin-Bronzen, deren Rückgabe Deutschland zugesagt hat.
Auch in der Debatte um die gestohlenen Schädel hat Deutschland klar Position bezogen: Rund 200 Schädel sollen nun nach Tansania und mehr als 900 nach Ruanda zurückgegeben werden, das zusammen mit Burundi und Teilen des nördlichen Mosambik ebenfalls zu Deutsch-Ostafrika gehörte. Erst im April bekräftigte Katja Keul, Staatsministerin im Außenministerium, bei einem Tansaniabesuch diese Haltung der Bundesregierung.
"Es ist ganz interessant, dass wir nach Jahrzehnten der kolonialen Amnesie und der Weigerung, Kolonialismus, koloniale Gewalt, koloniale Verbrechen und Unrecht ernst zu nehmen, seit zwei, drei Jahren ein Umdenken haben, zu sagen: Ja, wir erkennen es an, aber wir konzentrieren uns auf den Bereich Museen und Kunst, wir geben Objekte zurück", formuliert Historiker Zimmerer im DW-Gespräch. Auch bei menschlichen Überresten erkenne man an, was eben nicht abzuwenden sei.
"Aber was man vermeiden möchte, ist, das Strukturelle, Rassistische des Kolonialismus als solches anzuerkennen, das strukturell-rassistische Unrechtssystem, das der Kolonialismus nun einmal war, weil dann eben ganz grundsätzliche Fragen aufgeworfen werden nach Wiedergutmachung, nach Entschuldigung."
Historiker fordern länderübergreifende Kommission
Am grausamen Vorgehen der deutschen Kolonialmacht in Deutsch-Ostafrika lassen die Historiker Zimmerer und Mtoi keinen Zweifel aufkommen. Verhandlungen um Wiedergutmachung forderte Tansanias Botschafter Abdallah Possi schon 2020. Auch die Kleine Anfrage der Linken-Fraktion griff seine Forderung auf. Die Antwort der Bundesregierung: Es liege bislang keine offizielle Forderung der tansanischen Regierung vor.
Historiker Mtoi hält es indessen für ungeschickt, erst auf solche Forderungen zu warten. Er wünscht sich klare Signale der Versöhnung. Dabei gehe es nicht nur um den Maji-Maji-Krieg, sondern etwa auch um die Enteignung von Bauern im heutigen Ruanda und Burundi mit all ihren wirtschaftlichen Folgen. "Im kolonialen Kontext geht es nicht darum, abzuwägen, wer mehr und wer weniger erniedrigt wurde", sagt der Tansanier. Die Forderungen aus diesen Ländern würden nicht auf sich warten lassen.
Wenn Berlin jetzt zögerlich vorgehe, werde das die Beziehungen über Jahre belasten. Stattdessen schlägt Mtoi eine gemeinsame Kommission insbesondere von Historikern und Akademikern aus allen betroffenen Ländern vor. Das müsse auch im Interesse Deutschlands sein: "Deutschland ist eine der stärksten Nationen in der Welt", betont der Historiker. Ein Land, von dem viele Länder lernen würden. Als solches habe es eine besondere Verantwortung. "Es ist nichts Schlechtes, zu sagen, dass es dir leid tut. Es ist kein Zeichen von Schwäche - es zeigt, dass du Verantwortung übernimmst für die Völker dieser Welt."
Mitarbeit: Daniel Pelz
Dieser Artikel erschien erstmals am 07.06.2023. Er wurde nachträglich ergänzt. Das Artikelbild wurde aus Qualitätsgründen geändert.