Bulgarien: Regierung kommt nicht zustande
12. August 2021In Bulgarien sind die Würfel gefallen: Die Partei "Es gibt so ein Volk" des Showmasters Slawi Trifonow, die als stärkste Kraft aus den Parlamentswahlen im Juli - den zweiten in diesem Jahre - hervorgegangen war, wird keine Regierung bilden.
Nach der Ankündigung der anderen Protestparteien, "Demokratisches Bulgarien" und "Steh auf! Wir kommen!", die von Trifonow vorgeschlagene Regierung nicht zu unterstützen, folgte am 10.08.2021 dessen Rückzieher. Damit löste der Vorsitzende von "Es gibt so ein Volk", der unbestätigten Medienberichten zufolge an Multipler Sklerose erkrankt sein soll, eine kleine Verfassungskrise aus.
"Das hat es bislang nicht gegeben, dass die größte parlamentarische Gruppe es ablehnt, eine Regierung zu bilden, obwohl sie den Präsidenten bereits über ihren Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten informiert hat", sagt Hristo Hristev, Spezialist für Europäisches Recht an der Universität der bulgarischen Hauptstadt Sofia, der DW. "Dieser Fall ist in der Verfassung nicht vorgesehen."
Bei der Parlamentsabstimmung, die den Rückzug des von Trifonow vorgeschlagenen Ministerpräsidenten Plamen Nikolow "aus persönlichen Gründen" am 12.08.2021 offiziell machen sollte, blockierten sich die zwei stärksten Parteien, "Es gibt so ein Volk" und die konservative Partei "Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens" (GERB), gegenseitig. Erst am Mittag wurde ein Modus gefunden, den Rückzug des vorgeschlagenen Regierungschefs zu bestätigen.
Der Ton wird rauer
Wenn das Parlament in der Hauptstadt Sofia diesen Modus gefunden hat, ist der Weg für Präsident Rumen Radew frei, die zweitstärkste Partei GERB mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Deren Vorsitzender, Ex-Premier Bojko Borissow, hatte jedoch bereits am 10.08.2021 angekündigt, das Mandat umgehend zurückgeben zu wollen.
Unterdessen ergeht sich die politische Konkurrenz in gegenseitigen Schuldzuweisungen und Attacken. In einer seiner typischen Videobotschaften machte Trifonow die anderen Protestparteien für das Scheitern seiner Regierungsteam verantwortlich und beschimpfte sie als "Verräter". Wiktoria Wasilewa, Generalsekretärin von "Es gibt so ein Volk", beschuldigte die anderen Parteien, nie an einem ernsthaften Dialog interessiert gewesen zu sein, sondern nur an Minister- und anderen Posten.
Trifonows Befehle
Tatjana Dontschewa, Abgeordnete der aus den Protesten im Sommer 2020 hervorgegangenen Partei "Steh auf! Wir kommen", erhebt im Interview mit der DW ihrerseits Vorwürfe: "Mein Eindruck ist, dass Slawi Trifonow seinen Leuten Befehle erteilt, die niemals korrigiert werden. Diskussionen und Entscheidungen, so etwas kommt bei denen einfach nicht vor. Diese Leute - egal, ob sie sich einfach wichtig machen wollen oder weil es ihnen jemand befohlen hat - widersprechen allem, was inhaltliche Politik ausmacht."
Ähnlich äußert sich Hristo Iwanow, einer der Vorsitzenden des Bündnisses "Demokratisches Bulgarien", im Interview mit der DW: "Wir haben immer gesagt, wir werden nur eine Regierung des echten Wechsels unterstützen. Diese [die von "Es gibt so ein Volk" vorgeschlagene, Anm. d. Red.] Regierung war die am schwächsten besetzte, die je in Bulgarien aufgestellt wurde." Iwanow fügt hinzu: "Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies [das Scheitern der Regierungsbildung, Anm. d. Red.] ein zielgerichtetes Resultat war. Hinter den chaotischen Handlungen und der Unerfahrenheit stand eine klare Strategie, nämlich dass es um jeden Preis eine Minderheitsregierung geben sollte."
Nicht alle Brücken abbrechen
Gleichzeitig versuchte Iwanow, im Hinblick auf eine mögliche Regierungsbeteiligung seiner Partei zu beschwichtigen: "Unser Appell ist, dass wir nicht alle Brücken hinter uns abbrechen, sondern über eine Regierung sprechen sollten, die zumindest die nächsten sechs bis acht Monate Sicherheit bietet."
Alle Parteien - außer GERB und der Partei der türkischen Minderheit, "Bewegung für Rechte und Freiheiten" - seien verpflichtet, miteinander über diese zeitlich befristete Regierung zu sprechen, so Iwanow weiter: "Dazu werden die erfolgreichen Minister der amtierenden Übergangsregierung eingeladen, eine Regierung zu bilden, die das Land durch die neue Corona-Welle und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten führt, einen Haushalt beschließt, die Renten neu berechnet und eine Justizreform durchführt."
Wöchentliche Kabinettsumbildungen
Der nun eskalierende Streit zwischen "Es gibt so ein Volk", "Demokratisches Bulgarien" und "Steh auf! Wir kommen!" hatte sich bereits früh abgezeichnet. Alle drei Formationen eint das Ziel, den langjährigen und hoch umstrittenen Ministerpräsidenten Bojko Borissow von der Macht zu vertreiben, die grassierende Korruption zu bekämpfen und eine dringend benötigte Justizreform durchzuführen.
Seit der Wahl im Juli, aus der "Es gibt so ein Volk" als Sieger hervorging, wartete deren Parteivorsitzender jedoch beinahe täglich mit neuen Überraschungen auf, die seine politischen Verbündeten ein ums andere Mal brüskierten: Statt einer formellen Koalition mit Koalitionsvertrag forderte Trifonow schlicht parlamentarische Unterstützung ein. Und statt inhaltlicher Absprachen wurden wochenlang ausschließlich die Mitglieder eines möglichen Kabinetts diskutiert.
Intransparenz und skurrile Forderungen
Mehrmals stellte "Es gibt so ein Volk" dabei seine Partner und die Öffentlichkeit vor vollendete Tatsachen und präsentierte nicht weniger als drei Regierungen in vier Wochen. Aufsehen erregte Trifonow auch mit der skurrilen Ankündigung, es zu einer Priorität der Regierung machen zu wollen, in den nächsten vier Jahren bulgarische Astronauten ins Weltall zu bringen. Wer gehofft hatte, mit dem Abgang Bojko Borissows sei nun Schluss mit Hinterzimmerdeals, Egotrips und Machtpolitik, der wurde eines Besseren belehrt.
Die Chancen, dass es in Bulgarien doch noch zu einer Regierungsbildung kommt, sind ungewiss. Borissows GERB ist nach Korruptionsvorwürfen und Massenprotesten politisch isoliert und hat keine reale Chance, eine Mehrheit zu finden. Wenn sie erwartungsgemäß das Mandat an Präsident Radew zurückgibt, steht es dem bulgarischen Staatsoberhaupt frei, ob er das dritte und letzte Mandat an die oppositionellen Sozialisten oder Iwanows "Demokratisches Bulgarien" übergibt.
Borissow als lachender Dritter?
Ohne "Es gibt so ein Volk" und eine Einheit der Protestparteien kann jedoch niemand eine Mehrheit finden. Ob eine Minderheitsregierung, die, wie von Hristo Iwanow vorgeschlagen, teilweise aus der amtierenden Übergangsregierung hervorgehen könnte, überlebensfähig wäre, ist fraglich. Scheitern diese Versuche, müssen die Bulgaren im Herbst zum dritten Mal in sechs Monaten an die Wahlurnen gehen. Da zeitgleich auch die Präsidentschaftswahl ansteht, droht die Gefahr politischer Ermüdung.
Lachender Dritter könnte dann Bojko Borissow sein, der noch im Juli vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und dem Vorsitzenden der konservativen EVP im Europaparlament, Manfred Weber, (beide CSU) als Garant für Stabilität in Bulgarien gepriesen wurde. "Ordnung im Chaos" - der GERB-Wahlkampfslogan könnte manchem Bulgaren im Herbst attraktiver erscheinen als das Versprechen eines bulgarischen Astronauten.