Schräge politische Situation in Bulgarien
13. Juli 2021Die Endergebnisse der vorgezogenen Parlamentswahl in Bulgarien vom 11. Juli 2021 waren noch nicht bekannt - aber eine Partei hatte schon ihre künftige Regierungsmannschaft vorgestellt: die Antisystempartei "Es gibt so ein Volk" (ITN) des Talkshow-Moderatoren Stanislaw "Slawi" Trifonow. Sie hat einen hauchdünnen Vorsprung vor dem langjährigen Ministerpräsidenten Bojko Borissow und seiner Partei GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens), die Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP) ist.
Bei einer Wahlbeteiligung unter 40 Prozent hat ITN gerade mal knappe 24 Prozent der abgegebenen Stimmen für sich gewonnen. Trifonows Partei wird also nur von jedem zehnten wahlberechtigten Bulgaren unterstützt. Und will doch alleine regieren?
Trifonow ist bekannt als Eigenbrötler, als jemand, der immer seine eigene Agenda verfolgt und von der endgültigen Richtigkeit seiner Entscheidungen fest überzeugt ist. So scheint er auch jetzt einen unerwarteten und - aus seiner Sicht klugen - Schachzug zu spielen. Seine Überlegungen könnten ungefähr so aussehen:
"Die Bulgaren sind es müde, alle paar Monate wählen zu gehen. Langzeit-Premier Borissow ist weg, jetzt halte ich alle Trümpfe in der Hand. Die anderen im Parlament vertretenen Parteien haben keine andere Wahl, als meine Regierung zu unterstützen. Sollten sie das nicht tun, tragen sie die Verantwortung für das Scheitern des Parlaments - und für eine abermalige Neuwahl. Und die werde ich noch höher gewinnen, denn unter diesen Umständen werden die Wähler klar sehen, dass nur ich richtig und verantwortungsvoll gehandelt habe."
Trifonows Option
Dabei hat Trifonow eine durchaus nachvollziehbare Option: eine Minderheitsregierung in Koalition mit zwei anderen Protestparteien. So ein Kabinett hätte nicht nur rund 110 von insgesamt 240 Sitzen im neuen Parlament, sondern auch die Unterstützung von Hundertausenden Bürgerinnen und Bürgern, die im vergangenen Sommer monatelang gegen Korruption protestiert hatten.
Korruption - darum geht es in Bulgarien. Laut Transparency International weist das Land das höchste Niveau an Bestechlichkeit in der EU auf. Jahr für Jahr verschwinden bis zu fünf Milliarden Euro in korrupten Netzen, so behaupten hinter vorgehaltener Hand mehrere Vertreter von Protestparteien. Es geht vor allem um staatliche Aufträge, die ohne Ausschreibungen verteilt werden - und dicke "Provisionen" an die Auftraggeber zurückspülen.
Das "System Borissow"
Die Interimsregierung hat innerhalb von nur zwei Monaten schockierende Tatsachen zu diesem Thema öffentlich gemacht. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die künftigen Regierenden als Erstes das "System Borissow" abbauen sollten. Dies ist aber ein sehr schwieriges Vorhaben, denn dieses System wurzelt viel tiefer; es hat über Jahrzehnte die gesamte bulgarische Gesellschaft kontaminiert.
Die kleine Bestechung im Ordnungsamt, bei der Verkehrspolizei oder für eine Lizenzvergabe empfinden laut Umfragen viele Bulgarinnen und Bulgaren als falsch, aber notwendig. Und es ist diese Mentalität, die das System Borissow hervorgebracht hat - nicht umgekehrt.
Zauberwort "Rechtsstaatlichkeit"
Wie kommt man aus diesem Teufelskreis heraus? In der bulgarischen Gesellschaft gibt es schon die ersten zarten Ansätze. "Rechtsstaatlichkeit" heißt das Zauberwort. Um es endlich mit Inhalt zu füllen, hat man zwei Hoffnungsträger identifiziert: die junge, weltgewandte Generation, die nicht mehr in diesem Sumpf leben will; und die EU, die allerdings in Bulgarien bislang eher als Papiertiger empfunden wird.
Trifonow hat sich klar für Rechtsstaatlichkeit und EU ausgesprochen, er bekommt auch viel Unterstützung gerade von jungen Bulgaren und von bulgarischen Expats. Gleichzeitig aber legt er ein seltsames Demokratie- und Parlamentarismusverständnis an den Tag: Er selbst hat nicht bei den Parlamentswahlen kandidiert, will auch nicht Ministerpräsident werden, sondern aus dem Hintergrund die Strippen ziehen.
Trifonow und die sensiblen Themen
Zudem ignoriert er auch das verfassungsmäßige Procedere, indem er weder das Regierungsmandat von Staatspräsident Rumen Radew abwartet, noch Koalitionsverhandlungen mit anderen Parteien führt. Und seine EU-Freundlichkeit klingt manchmal wie ein bloßes Lippenbekenntnis, besonders wenn es um in Bulgarien durchaus sensible Themen geht wie die Gender-Gerechtigkeit oder das bulgarische Veto gegen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien.
Weil er die Gefühle der bulgarischen Mehrheit durchaus kennt und teilt, setzt sich Trifonow für die so genannte traditionelle Familie ein und schlägt vor, die Spannungen mit Nordmazedonien durch eine gemeinsame Mission im Weltall zu entschärfen.
Ein vage formuliertes Regierungsprogramm
Wie wird sich die politische Situation in Bulgarien entwickeln? Trifonow wird wohl vom Präsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt werden; sein aus Experten bestehendes Kabinett könnte durchaus eine breite Unterstützung im Parlament bekommen. Danach wird er aber auf wechselnde Mehrheiten setzen müssen, wobei seine politischen Schwerpunkte noch ziemlich unklar sind.
Trifonows vage formuliertes Regierungsprogramm klingt zum Teil populistisch. So wird etwa das Mehrheitswahlrecht und eine direkte Wahl des Generalstaatsanwalts gefordert. Zum Teil klingt es protektionistisch und wirtschaftlich nicht besonders gut fundiert. Manche Beobachter glauben, dass sich eine Regierung unter dem Showmaster mindestens bis zur Präsidentschaftswahl im Oktober 2021 halten könnte; andere bezweifeln, dass überhaupt eine Chance besteht, dass sie zustande kommt. Sollte das eintreten, müssten die Bulgarinnen und Bulgaren in diesem Jahr zum dritten Mal ein neues Parlament wählen.