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Politik

Das tiefe Misstrauen gegenüber der Politik

Thomas Milz
20. September 2018

Nach den Korruptionsskandalen haben viele Brasilianer genug vom alteingesessenen Polit-Establishment und sehnen sich nach Erneuerung. Doch diese wird bei den anstehenden Wahlen ausbleiben.

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Brasilien, Rio de Janeiro: Nach dem Brand des Nationalmuseums
Hier machen Studenten ihrem Ärger über den Brand im Nationalmuseum Luft - und über die RegierungBild: Getty Images/AFP/M. Pimentel

Weltweit stecken die repräsentativen Demokratien in einer Vertrauenskrise. In Brasilien ist das Misstrauen durch die seit 2014 aufgedeckten Korruptionsskandale rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobas besonders groß. Praktisch alle großen Parteien sind betroffen. Laut Umfrageinstitut Datafolha misstrauen 68 Prozent der Brasilianer den Parteien, laut Ibope sogar 87 Prozent.

"Es ist normal, dass der Wähler von der Politik enttäuscht ist, nachdem er so lange Nachrichten über Korruption dieses Ausmaßes ausgesetzt war", sagt der Politikwissenschaftler Carlos Pereira von der Fundação Getúlio Vargas in Rio de Janeiro. "Es wäre irrational, wenn der brasilianische Wähler nicht derart reagieren würde."

Die Ernüchterung öffne Raum für eine Dämonisierung der Politik, so Pereira. "Und für die Theorie, dass alle Politiker gleich und damit korrupt sind." Das wiederum führe zu dem Glauben, dass die Demokratie nicht in der Lage sei, die Probleme der Gesellschaft zu lösen und rüttele an der demokratischen Legitimität.

Entfernung zwischen Bürgern und Politik

Die Distanz zwischen Politik und Bevölkerung ist nicht neu. Sie existierte bereits  vor den Massendemonstrationen von Juni 2013, als sich die Unzufriedenheit mit der politischen Klasse an Fahrpreiserhöhungen entzündete und sich millionenfach Luft machte. Sie existierte auch vor der Offenlegung der "Lava Jato" Affäre um den Öl-Konzern Petrobas von 2014.

Besonders sichtbar sei die Distanz während der Diktatur (1964-85) gewesen, sagt der Politikwissenschaftler Marco Aurélio Nogueira. "Die Politik war weit weg und fremd - auch deshalb, weil man sie ja nicht ausüben durfte."

Mit der Redemokratisierung Mitte der Achtziger wurde Brasiliens Gesellschaft politisiert. "Die Menschen nahmen die Einladung an, mitzumachen und sich um die Politik zu kümmern." In den letzten Jahren sei jedoch eine tiefe Ernüchterung eingekehrt, "eine erneute Entfernung der Bürger von der Politik."

Eine Mehrheit hat das Vertrauen verloren

Zwei Formen der Reaktion seien derzeit typisch, so Nogueira. "Eine Minderheit glaubt, dass man Politik besser außerhalb der staatlichen Institutionen verwirklichen könne, in NGOs und Beiräten. Die Mehrheit glaubt, dass man den Politikern nicht vertrauen könne, dass sie nichts ändern werden und dass sie nur an ihren Spielchen interessiert seien. Deshalb müsse man Alternativen suchen."

Brasilien Präsidentschaftswahlen Kandidat Jair Bolsonaro
Präsidentschaftskandidat Jair BolsonaroBild: Getty Images/AFP/E. Sa

Nach den Massenprotesten Mitte 2013 sollten Polit-Reformen eine Erneuerung bringen. Viel ist davon derzeit nicht zu sehen. "Die großen Parteien waren nicht in der Lage, in ihren Reihen einen Prozess der Erneuerung durchzuführen. Und die Idee eines wirklichen Outsiders hat sich auch nicht durchgesetzt." Als solcher stellt sich vor allem der ultrarechte Ex-Militär Jair Bolsonaro dar, Favorit bei der Präsidentenwahl am 7. Oktober, seit ein Gericht die Kandidatur des inhaftierten Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva untersagt hat.

 "Bolsonaro ist ja selber bereits seit vielen Jahren im Politbetrieb", so der Rechtsexperte Michael Freitas Mohallem von der Fundação Getúlio Vargas. "Die Parteien haben diesem Verlangen der Bevölkerung nach Erneuerung den Rücken zugekehrt, weil sie damit beschäftigt waren, sich selbst zu verteidigen." Insgesamt werden bei der Wahl auch 31 durch "Lava Jato" belastete Kandidaten antreten. Ein neues Mandat würde ihnen eine partielle Immunität bescheren.

Umstrittene Stimmverteilung nach "puxador de votos"

Die Idee, Politiker an den Urnen abzustrafen, wird eine Illusion bleiben. Mitverantwortlich ist - neben dem Unwillen der Parteien - auch die Institution des "puxador de votos": Kandidaten mit mehr Stimmen, als sie für ihre Wahl brauchen, übertragen die überzähligen Stimmen auf Parteikollegen, die selber nicht genug Stimmen erhalten haben. Also durchaus Politiker, die der Wähler eigentlich abstrafen wollte.

Brasilien Luiz Inacio Lula da Silva Ex-Präsident
Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da SilvaBild: picture-alliance/dpa/P. Lopez

Immerhin wurde die alte Regel, nach der die Stimmen sogar auf Politiker anderer Parteien der eigenen Koalition übertragen wurden, geändert. Nach Erhebungen des politischen Instituts der Gewerkschaften DIAP wurden bei den Wahlen 2014 nur 36 von 513 Abgeordneten direkt gewählt. Die restlichen 477 Abgeordneten hatten nicht die nötigen Stimmen bekommen. So hievten beispielsweise die über eine Million Stimmen, die der bekannte Fernseh-Clown Tiririca (PR-SP) gewann, zahlreiche Kollegen mit ins Parlament.

Gut für Parteien, schlecht für die Repräsentativität

Tatiana Roque, Kandidatin der PSOL in Rio de Janeiro, setzt auf ihren landesweit bekannten Parteikollege Marcelo Freixo als "puxador de votos". Die Übertragung von Stimmen innerhalb der Partei hält sie für positiv. "Wenn der Wähler dem Kandidaten seine Stimme gibt, gibt er sie automatisch auch dessen Partei. Die Philosophie dahinter ist nicht schlecht, sondern sie gibt der Partei eine besondere Bedeutung."

Doch auch Roque ist sich bewusst, dass die "puxadores" überall dort Schaden für die Repräsentativität anrichten, wo es keine parteiübergreifende Ideologie gibt. "Das System wurde für einen Idealfall kreiert. Ich stimme zu, dass dies nicht mehr der Fall ist." Die negativen Nebenwirkungen müsse man hinnehmen, so Politologe Pereira. "Es gibt nun einmal kein perfektes System."

Brasilien Wahlen
Fernando Haddad tritt an Stelle von Ex-Präsident Lula für die Arbeiterpartei anBild: picture-alliance/AP Photo/A. Penner

Im Gegensatz zu Mehrheitswahlsystemen wie in den USA, wo rund die Hälfte der Wählerstimmen nicht im Parlament repräsentiert werde, wolle man in Brasilien möglichst viele Wählerstimmen im Parlament repräsentiert sehen. "Die Gesellschaft muss halt entscheiden, was man mit dem System gewinnen will, und was man zu verlieren gewillt ist. Brasiliens Gesellschaft hat sich in der Geschichte dazu entschlossen, an Repräsentativität und Einbeziehung zu gewinnen." Der Nachteil sei, dass die eigene Stimme Kandidaten wählt, für die man eigentlich nicht gestimmt hat.

Ungleiche Verteilung der Wahlkampfgelder 

Eine weitere Hürde für die Erneuerung ist das neue Modell der öffentlichen Wahlkampffinanzierung. Dabei entscheidet die Parteispitze, wessen Kampagne finanziert wird. Meist sind dies alteingesessene Kandidaten. Politneulinge erhalten im Durchschnitt 116.000 Reais für ihren Wahlkampf, während altgediente Kandidaten im Durchschnitt 766.000 Reais erhalten. Insgesamt gehen 67 Prozent des staatlichen Wahlkampffunds an Kandidaten, die bereits im Kongress sitzen oder saßen.

Doch auch die restlichen 33 Prozent gehen nicht komplett an neue Politiker, sondern an illustre Figuren wie Ex-Präsidentin Dilma Rousseff und Danielle Cunha, Tochter des wegen Korruption inhaftierten Ex-Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha.

Und auch dieses ist typisch: Eine der Neulinge ist Flávia Arruda. Ihr Mann, Ex-Gouverneur José Roberto Arruda, hatte seine Frau ins Rennen geschickt, nachdem er selber wegen einer Verurteilung wegen Amtsmissbrauchs nicht antreten darf.