Juni 2013: Geburtsstunde von Brasiliens Krise
25. Juni 2018Aus dem Zorn über Fahrpreiserhöhungen entwickelten sich im Juni 2013 überraschend die größten Massenproteste seit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der Achtzigerjahre. Über Nacht war das Land sich selbst überdrüssig geworden und verlangte nach einem Neuanfang. Heute, fünf Jahre später, ist aus den unerfüllt gebliebenen Hoffnungen von damals tiefe Enttäuschung geworden.
Wohl kaum jemand in Brasilien ahnte Anfang Juni 2013, dass dem Land derart bewegende Zeiten bevorstanden. Der Wirtschaft ging es gut, die Arbeitslosigkeit bewegte sich auf niedrigem Niveau. Millionen von einst armen Familien waren seit dem Machtantritt der Mitte-Links-Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva im Jahr 2003 in die Mittelschicht aufgerückt. Trotzdem fluteten seit dem 20. Juni 2013 Millionen Brasilianer regelmäßig die Straßen von Rio de Janeiro, São Paulo und anderer Großstädte.
Damals forderten die Demonstranten, angesichts der teuren Sportarenen endlich auch Schulen, Krankenhäuser und einen öffentlichen Personennahverkehr "nach Fifa-Standards". Der als durch und durch korrupt empfundenen Polit-Klasse traute man jedoch nicht zu, die Veränderungen zu realisieren. "Keine Parteien, keine Fahnen", lautete das Motto der Massenproteste. Der Juni 2013 war ein Sammelsurium unterschiedlichster Graswurzelbewegungen, die nur eins einte: das Gefühl, nicht mehr von der Politik vertreten zu werden.
Gefährliche Saat
"Im Juni 2013 wurde die Saat für die heutigen politischen Konflikte ausgelegt", sagt die Soziologin Esther Solano von der Bundesuniversität São Paulo (UNIFESP). "Es gab schon einen Diskurs gegen das politische Establishment, Parteipolitiker und Parteien waren bei den Protesten unerwünscht, und Fahnen wurden verbrannt." Dieser Diskurs habe sich in den vergangenen fünf Jahren verstärkt.
Genau fünf Jahre nach den Massenprotesten, haben sich nur wenige der damals postulierten Erwartungen erfüllt. Brasiliens Ex-Präsidentin Dilma Roussef und ihre Regierungskoalition schafften es zwar noch, im brasilianischen Kongress eine Mehrheit dafür zu finden, dass Korruption als Kapitalverbrechen eingestuft und festgeschrieben wird. Außerdem stimmten die Volksvertreter für die Verwendung von Einnahmen aus der Ölförderung vor der brasilianischen Küste Mittel zur Finanzierung des Gesundheits- und Bildungssystems.
Doch die große politische Reform blieb aus. Nach dem Ende des Confed Cups und damit auch nach dem Ende der internationalen Aufmerksamkeit wurden die Proteste im Herbst 2013 zunehmend mit Polizeigewalt unterdrückt.
"Die politischen Verantwortungsträger scheinen die Bedeutung der Bewegung nicht verstanden zu haben", meint die Anwältin Camila Marques von der Menschenrechtsgruppe "Artigo 19". "2013 waren alle Bemühungen darauf ausgerichtet, die Demonstranten zum Schweigen zu bringen."
Es war der Beginn einer Reihe traumatischer Erlebnisse für Brasiliens Gesellschaft. Von 2014 an kamen dann die Korruptionsermittlungen der "Operation Autowaschstraße" hinzu, die mächtige Unternehmer und Politiker zu Fall brachten. Mit ihnen allerdings brach auch der Glaube an Brasiliens politisches System zusammen.
Politik am Pranger
"Der Geist von 2013 hat sich schon bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2014 in Luft aufgelöst", sagt die Soziologin Solano. Als 2015 die Wirtschaft auch noch in die Rezession rutschte, "nutzten rechte Gruppen die Welle der Unzufriedenheit, um das Amtsenthebungsverfahren gegen die damalige Präsidentin Rousseff voranzutreiben".
Geblieben ist das Gefühl, dass die Politik keine Lösung bereithält. Angesichts der anstehenden Wahlen im Oktober ein Besorgnis erregendes Szenario. "Die Idee, sich nicht mit dem politischen System und den politischen Repräsentanten zu identifizieren, ist nach wie vor präsent", bestätigt Politikwissenschaftler Ricardo Ismael von der Katholischen Universität Rio de Janeiro (PUC-RJ). Dies werde wahrscheinlich dazu führen, dass viele Wähler ungültige Stimmzettel abgeben.
Brasilien ist heute gespalten wie nie zuvor. Die von vielen Brasilianern als "Staatsstreich" empfundene Amtsenthebung von Dilma Rousseff und die Verurteilung und Verhaftung von Ex-Präsident Lula da Silva wegen Korruption haben die Gesellschaft entzweit. "Um die Linke mache ich mir nicht so große Sorgen", sagt Soziologin Solano. "Lula könnte trotz seiner Verhaftung Stimmen auf einen anderen Kandidaten übertragen."
Anders sei die Lage im Mitte-Rechts-Lager. Weil dieses über keinen starken Kandidaten verfüge, bestünde die Gefahr, dass diese Stimmen dem rechtsaußen-Kandidaten Jair Bolsonaro zu Gute kämen. Der selbsterklärte Polit-Outsiders bedient und profitiert von der Politikverdrossenheit vieler Brasilianer.
Wenn etwas von den Protesten des Juni 2013 bis heute überlebt hat, dann ist es genau diese Politikverdrossenheit. Und damit die Bereitschaft, einen Kandidaten zu wählen, der die Politik selbst verneint. Kein Mut machendes Szenario für das von Krisen geschüttelte Land.