Brasilien auf der Couch
9. Juli 2014"Dilma, hau ab", schrien die verzweifelten Fans im Stadion von Belo Horizonte, als es bereits fünf zu null für Deutschland stand. Drei lange endlose Minuten ließen sie ihre Wut und Enttäuschung heraus, dann verwandelte sich die Wut zunehmend in Fassungslosigkeit, später in Zynismus und schließlich in Anerkennung für die deutsche Mannschaft.
Noch in der Nacht nach der Niederlage begann die gnadenlose Selbstkritik. "Brasilien ist das Land der WM, nicht mehr das Land des Fußballs", lautet die bittere Bilanz des brasilianischen Schriftstellers Fabrício Carpinejar. Bei der nächsten Weltmeisterschaft solle die Seleção ihre Zeit nutzen, um zu trainieren, statt Werbespots zu drehen. "Messianische Erwartungen, die unsere Mannschaft als sechsten Weltmeister betrachten, sind verboten", stellt er klar.
Es war einmal eine Seleção - schon vor Beginn der WM war der Erfolgsdruck, der auf der brasilianischen Nationalelf lastete, enorm. Doch das brasilianische Märchen vom sechsten Weltmeister-Titel im eigenen Land war einfach zu verlockend.
Neymars Ausscheiden ist keine Entschuldigung
Über dem süßen Streben nach Ruhm und Ehre schien ein Fluch zu liegen. Nach dem Ausscheiden von Starspieler Neymar begannen viele Brasilianer, sich mental auf eine Niederlage einzurichten. Doch das brasilianische WM-Fußballmärchen wurde weiter gesponnen.
Die Kolumnistin Eliane Cantanhêde gehörte zu den wenigen Fußballfans in Brasilien, die sich bereits vor dem Halbfinale öffentlich von der nationalen Fangemeinde verabschiedete: "Die Seleção hat auch mit Neymar nicht überzeugt", stellte sie klar. "Es reicht, sich noch einmal das Spiel Brasilien gegen Mexiko anzuschauen, um sich davon zu überzeugen."
Für die Kolumnistin der brasilianischen Tageszeitung "Folha de São Paulo" ist nach der historischen Niederlage die WM-Schonfrist für Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff vorbei. Die politischen Herausforderer bei den Präsidentschaftswahlen am 5. Oktober warteten nur auf das Ende des Turniers. Cantanhêde: "Sie wollen den Wettkampf um Wirtschaftskompetenz eröffnen."
Explosive Stimmung
Doch ob ausgerechnet der Wahlkampf das richtige Mittel gegen Brasiliens kollektive Depression ist, erscheint fraglich. "Ich habe Angst, dass die Leute die Niederlage schlecht verdauen und sich wieder der Pessimismus breit bracht, der vor der WM herrschte", meint die Süßigkeitenverkäuferin Valéria Cohen. Die Mischung zwischen WM und Politik sei gefährlich und explosiv.
Explosiv war auch die Stimmung in der Kneipe "Butesquina" in Rios Stadtteil Copacabana, wo die Verkäuferin gemeinsam mit zahlreichen Landsleuten die Partie verfolgte. Nach dem fünften Tor der Deutschen blieb den brasilianischen Fußballfans nur noch die Flucht in den Zynismus. "Flamengo, Flamengo, noch ein Tor, noch ein Tor", feuerten sie deutsche Nationalelf an, die ausgerechnet an diesem Tag das rot-schwarze Trikot des einheimischen Fußballklubs "Flamengo" trug.
"Ich bin nicht traurig, nicht wütend, und ich habe die Seleção auch nicht angefeuert", meint der Student Rafael Oliveira. Die WM habe viele Brasilianer vergessen lassen, wofür die Menschen vor einem Jahr auf die Straße gegangen seien. "Ich wollte, dass Brasilien früher rausfliegt und die Leute wieder protestieren", gesteht er.
Rousseff muss um Wiederwahl bangen
Genau gegen diese "Pessimisten" hatte Präsidentin Rousseff noch vor Kurzem gewettert. "Brasilien legt eine echte Show hin", erklärte sie nach dem 3:2-Sieg Brasiliens gegen Chile im Viertelfinale. "Die Fans haben einen Volltreffer gegen alle Kritiker gelandet und uns von unserem Straßenköter-Komplex befreit."
Nach Deutschlands Volltreffer ist Brasilien nun in der rauen Wirklichkeit angekommen. Brasiliens Märchenerzähler haben in den kommenden Wochen und Monaten viel zu tun. Sie müssen nicht nur das Kapitel vom sechsten WM-Titel umschreiben. Sie werden vermutlich auch das Märchen von der Wiederwahl Dilma Rousseffs um einige Kapitel erweitern müssen. Nur die WM selbst hat sich bis jetzt als brasilianisches Sommermärchen erwiesen.
"Zufriedenheit begünstigt politische Kontinuität, Unzufriedenheit fördert politische Reformen", meint Kolumnistin Eliane Cantanhêde. Ein WM-Titel hätte sicherlich zur Beruhigung der rund 70 Prozent der brasilianischen Bevölkerung beigetragen, die Veränderungen will. "Ein Wachstum von gerade einmal einem Prozent", so Cantanhêde, "garantiert niemandem eine Wiederwahl".