Berlinale trotzt Omikron-Welle
9. Februar 2022Sieben Regisseurinnen im Wettbewerb um den Goldenen Bären, viel Raum für Dokumentarisches, ein Hoch auf das Autorenkino: Das Programm der 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin hat schon vor Beginn des Festivals viel Lob erhalten. 2020 gerade noch vor dem großen Corona-Lockdown in Deutschland ins Ziel gerettet, musste die Berlinale 2021 verschoben und zweigeteilt werden.
Gelingt 2022 also der Schritt zurück zur Normalität? Die Festivalleitung probiert es, Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und der künstlerische Leiter Carlo Chatrian hatten sich früh auf das Festival als Präsenzveranstaltung festgelegt - auch nach dem Auftreten der hoch ansteckenden Omikron-Variante, deren Höhepunkt ausgerechnet für den Zeitraum des Filmfests prognostiziert wurde.
Just an dem Tag, als die Festival-Leitung ihr Programm vorstellte, überschritt die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland zum ersten Mal die Marke von 100.000. "Die Filme, die wir zeigen, brauchen die Leinwand", sagte Rissenbeek, und die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth fügte vor ein paar Tagen an, man lasse sich die Berlinale nicht wegnehmen.
Da unklar ist, ob sich ein Virus von trotzigen Aussagen beeindrucken lässt, war die Kritik an der Planung in den vergangenen Wochen heftig ausgefallen: Ein Kommentar des RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg) verglich die Situation mit "Russisch Roulette" und forderte die Absage der Berlinale, die "Zeit" nannte das Festhalten am Präsenzkonzept "unverantwortlich und gestrig" und die lokale Boulevardzeitung "B.Z." bezeichnete die Genehmigung des Festivals als "Extrawurst".
Kein relevanter Ort für Infektionen
"Ich verstehe die Kritik in ihrer Biestigkeit nicht", sagt Arne Birkenstock, Produzent und Vorstand der Filmakademie, der DW. Es werde weniger Vorführungen geben, keine Partys, die Kinos würden nicht voll besetzt sein. "Die Menschen sind unterschiedlich vorsichtig, das ist auch völlig in Ordnung. Aber Kinos tauchen in keiner Statistik als relevanter Ort des Infektionsgeschehens auf."
Das bestätigt der Epidemiologe Timo Ulrichs. Zwar betont der Professor für internationale Not- und Katastrophenhilfe an der privaten Berliner Akkon Hochschule für Humanwissenschaften im Gespräch mit der DW, dass die aktuelle Debatte über Lockerungen ein Signal zur falschen Zeit sei - bei der Berlinale sieht er dagegen kein erhöhtes Infektionsrisiko.
"Kinosäle haben ein enormes Luftvolumen, die Luft wird sehr schnell ausgetauscht, deutlich besser als im Theater oder der Oper in alten Gebäuden", sagt Ulrichs. Mit dem Hygienekonzept der Berlinale - begrenzte Belegung der Kinosäle, 2G plus mit FFP2-Maske, bei Pressevorführungen sogar eine Testpflicht für Geboosterte - "kann man das machen", meint der Epidemiologe.
Allerdings sei das etablierte Testsystem nicht mehr so gut wie etwa bei der Delta-Welle, sagt Timo Ulrichs. "Die Tests können bei guter Immunantwort falsch negativ sein." Er verweist jedoch darauf, dass FFP2-Masken "einen erheblichen Schutz bieten", weshalb das Festival in der Summe aller Maßnahmen gut aufgestellt sei.
Dennoch bleibe ein Restrisiko, wenn Besucher im geschlossenen Kinosaal ihre Masken absetzen würden, sagt Ulrichs: "Das Problem ist dann weniger die Infektion für den Geimpften, sondern dass er die Infektion weiterträgt."
Berlinale im Sommer? Dann gibt es weniger Filmpremieren
Mit ihrem Termin im Februar, wenn es in Berlin noch etwas ungemütlicher und grauer ist als andernorts, trifft die Berlinale traditionell auf den Höhepunkt der Grippe- und Erkältungssaison - auch ohne Pandemie. Das sogenannte Summer Special, das Publikumsfestival im vergangenen Jahr, war bei Zuschauerinnen und Zuschauern entsprechend gut angekommen. Eine Verlegung in die mildere Jahreszeit, in der das Infektionsgeschehen geringer ist, war in diesem Jahr dennoch nicht vorgesehen.
Dabei war die Berlinale einst sogar im Sommer gestartet, erst 1978 wurde sie an den Jahresanfang vorverlegt, um der Konkurrenz etwa aus Cannes im Rennen um gefragte Produktionen zuvorzukommen. Eine Verlegung in den Sommer hätte die Berlinale diesmal wohl Filme gekostet, die dann auf anderen Festivals ihre Premieren gefeiert hätten.
Außerdem hätte die Berlinale, der international noch immer der Glanz von Cannes oder Venedig abgeht, im ohnehin vollen Festival-Sommer an Aufmerksamkeit eingebüßt.
Keine Online-Vorführungen
Während der European Film Market, die Börse, auf der die Verleihrechte für Länder und Regionen gehandelt werden, wie im vergangenen Jahr abgesagt wurde und die Filme dort auch 2022 online zur Verfügung gestellt werden, wurde der internationalen Presse diese Möglichkeit, anders als 2021, verwehrt - obwohl die Maßnahme den Andrang in den Kinos hätte entzerren können.
Die Berufsvereinigung deutscher Medienjournalisten kritisiert das scharf. "Hunderte Kolleginnen und Kollegen, die regelmäßig berichten, können nicht einreisen, weil sie in einem Land leben, das sich die von der EU-zugelassenen Vakzine nicht leisten konnte. Sie wurden offenbar von Ihnen vergessen", heißt es in einem Brief an die Berlinale-Leitung.
"Die Durchführung der Berlinale ist ein positives und gutes Zeichen", sagt dagegen Dunja Bialas, Vorstandssprecherin vom Verband der deutschen Filmkritik, im DW-Gespräch. Allerdings werde die diesjährige Berlinale zum Stresstest für alle Beteiligten. "Der Ablauf steht unter großem Druck: Kommen alle rein, greifen die Maßnahmen, geht alles gut?"
Auch im Verband seien verschiedene Auffassungen diskutiert worden, "aber wir plädieren dafür, dem Ganzen eine Chance zu geben", sagt Bialas. Für die Berichterstattung gehe es schließlich nicht allein um die Sichtung von Filmen, "auch der Einblick in die Atmosphäre ist wichtig, in den Festival-Charakter. Das macht die Berlinale aus."
"Ein großes Risiko eingegangen"
Viele Kritikerinnen und Kritiker hätten ihre Teilnahme abgesagt - weil sie selbst erkrankt seien, in der Familie Infektionsfälle hätten oder sich vor einer Ansteckung fürchteten. Auch sei die gesamte Entscheidungsfindung von Rissenbeek und Chatrian nicht transparent kommuniziert worden, sagt die Filmkritikerin. Mit der Entscheidung für die Präsenz-Berlinale sei die Festival-Leitung "ein großes Risiko eingegangen".
Tatsächlich hatte Mariette Rissenbeek vor ein paar Tagen eingeräumt, das Filmfest im Falle einer Absage durch die Behörden komplett und ersatzlos streichen zu müssen. Einen Plan B gibt es nicht.
Der Filmkritiker Rüdiger Suchsland nimmt die Berlinale-Verantwortlichen in Schutz. Er koordiniert für den internationalen Kritiker-Verband Fipresci in diesem Jahr die Kritiker-Jury der Filmfestspiele. "Alle zwölf Jury-Mitglieder reisen an, aus so unterschiedlichen Ländern wie Taiwan mit vorbildlichem Infektionsschutz oder Russland, wo es mit den Impfungen schleppend läuft", sagt Suchsland. Von ausländischen Kollegen habe er bislang wenig Vorbehalte gegen die Präsenzveranstaltung vernommen.
Dennoch entspricht die Zahl der Anmeldungen im Vergleich zu Prä-Corona-Zeiten nur rund der Hälfte. Für viele Kolleginnen und Kollegen gestalte sich die Planung schwierig, auch weil unklar sei, welche ausländischen Testzertifikate anerkannt würden, sagt Suchsland. Es sei schwierig zu vermitteln, warum Pressevertreter mit Booster-Impfung einen tagesaktuellen Test vorlegen müssten, während dieser für das geboosterte Publikum nicht verlangt werde.
Für Rüdiger Suchsland können diese Nebengeräusche das positive Signal, das von der Berlinale ausgehe, nicht überdecken: "Sie ist ein Bekenntnis zum Ort Kino."
Produzent Arne Birkenstock freut sich besonders für die Filmschaffenden. Für sie sei es "unglaublich wichtig", ihre Filme auf der Leinwand präsentieren zu können: "Eine Premiere online zu feiern, ist furchtbar frustrierend."