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Berlinale im Schatten des Israel-Hamas-Krieges

Elizabeth Grenier
20. Februar 2024

Politik ist für das Internationale Filmfestival Berlin kein Fremdwort. In diesem Jahr sorgt der Nahostkonflikt für hitzige Debatten und auch Proteste.

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Mann in einem roten Kapuzenpullover vor einem zerstörten Haus
Der Dokumentarfilm "No Other Land" wurde von einem palästinensisch-israelischen Kollektiv gedreht Bild: Berlinale

Die Berlinale ist als Filmfestival bekannt, das politische Themen aufgreift und für humanitäre Werte eintritt. Debatten und Proteste rund um den Krieg zwischen Israel und der Hamas waren bei der diesjährigen Veranstaltung unweigerlich zu erwarten.

Auf dem Roten Teppich bei der Festivaleröffnung tauchten zunächst einige "Free Gaza"-Schilder auf, aber ansonsten verlief die Eröffnungsgala am 15. Februar ohne Störungen.

Drei Tage später protestierten dann unerwartet etwa 50 pro-palästinensische Unterstützer auf dem European Film Market auf, der eng mit dem Festival verbunden ist. Der Filmmarkt für Fachleute der Filmindustrie steht normalerweise nicht im Rampenlicht der Öffentlichkeit.

Roter Teppich auf der Berlinale

Auch Berlinale-Mitarbeitende fordern stärkeres Statement

Kritik kam auch aus den Reihen der Festivalorganisation selbst. In einem offenen Brief, der aktuell von 60 Berlinale-Vertragspartnern - darunter Kuratoren verschiedener Sektionen des Festivals - unterzeichnet wurde, wird das Festival aufgefordert, seine offizielle Stellungnahme zur aktuellen humanitären Krise in Gaza zu verschärfen.

Das Berlinale-Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian betonte bei der Vorstellung des Programms, dass ihr Mitgefühl allen Opfern der Krise im Nahen Osten gelte. "Wir möchten, dass das Leid aller wahrgenommen wird und mit unserem Programm verschiedene Perspektiven auf die Komplexität der Welt eröffnen", hieß es konkret.

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian stehen auf dem Roten Teppich bei der Berlinale 2024
Das Leitungsduo der Berlinale, Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, äußerte sich besorgt über die Zunahme von Hass in der GesellschaftBild: Gerald Matzka/dpa/picture alliance

Den Unterzeichnern reicht das jedoch nicht aus: "Wir schließen uns einer weltweiten Solidaritätsbewegung an, die einen sofortigen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln fordert", heißt es in dem Schreiben. "Da die Welt Zeuge eines unvorstellbaren Verlusts an zivilen Leben in Gaza ist - darunter auch von Journalisten, Künstlern und Filmschaffenden - sowie der Zerstörung eines einzigartigen kulturellen Erbes, brauchen wir eine stärkere institutionelle Haltung."

Boykottaufruf von Strike Germany

Ein weiterer offener Brief kommt von den Teilnehmern der Sektion "Forum Expanded" - ein unabhängig kuratiertes Programm des Festivals. Es gilt als experimentelle Sektion und zielt darauf ab, das Verständnis von Kino zu erweitern. 

Die mehr als 100 Unterzeichnenden des Briefes brachten ihre Unterstützung für vier Kolleginnen und Kollegen zum Ausdruck, die ihre Werke im Vorfeld des Festivals aus der Auswahl zurückgezogen hatten. Die vier Filmschaffenden erklärten auf Instagram ihre Solidarität mit der Bewegung "Strike Germany", die zum Boykott von staatlich geförderten Kultureinrichtungen in Deutschland aufruft. Ihnen wird vorgeworfen, das Recht auf freie Meinungsäußerung zu Israels Politik und insbesondere die Solidarität mit Palästina zu unterdrücken.

Ein israelischer Film behandelt den Aufstieg des Faschismus

Die israelischen Filmemacher hingegen, die auf dem Festival vertreten sind, scheuen nicht davor zurück, die Regierung ihres Landes zu kritisieren.

So stellt Regisseur Amos Gitai auf der Berlinale seinen neuen Spielfilm "Shikun" vor. Der Film basiert auf Eugene Ionescos Theaterstück "Rhinoceros" aus dem Jahr 1959 - eine absurde Fabel, die den plötzlichen Aufstieg des Faschismus im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs thematisiert.

Gitai entwickelte das Filmprojekt während der Protestbewegung gegen die umstrittene Justizreform des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu. Die Reform wurde von Kritikern als Angriff auf die Demokratie des Landes betrachtet.

Der israelische Filmemacher Amos Gitai steht vor einem weißen Hintergrund
Der israelische Filmemacher Amos GitaiBild: Ottavia Da Re/Sintesi/Photoshot/picture alliance

In "Shikun" (was auf Hebräisch "sozialer Wohnungsbau" bedeutet) präsentiert Gitai einen Querschnitt der vielfältigen israelischen Gesellschaft. Er zeigt Szenen mit Israelis und Palästinensern, aber auch mit Ukrainern und anderen Neuankömmlingen im Land. Sie alle leben in einem Wohnkomplex zusammen: Alte und junge Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen und sich mit der aktuellen Lage in Israel auseinandersetzen. 

Gitai will seine Zuschauer mit einer unkonventionellen Erzählstruktur herausfordern. In einem Interview während der Berlinale erklärte er, dass er von der einheitlichen Erzählweise in den Filmen von Streaming-Anbietern gelangweilt sei.

Im Film zitiert er einige der größten Denker der Geschichte, von Umberto Eco bis Robert Musil. Außerdem inszeniert er Auszüge aus einem Artikel der israelischen Journalistin Amira Hass mit dem Titel "'I Was Just Following Orders': What Will You Tell Your Children?" (Deutsch: Ich habe nur Befehle ausgeführt: Was wirst du deinen Kindern erzählen?), den sie schon 2018 veröffentlicht hat. Der Artikel sollte Israelis für die Notlage der Menschen im Gazastreifen sensibilisieren.

Hass, Tochter von Holocaust-Überlebenden, gehörte zu den ersten Kritikern der deutschen Haltung gegenüber Israel nach den Anschlägen vom 7. Oktober. Weniger als zehn Tage nach den Anschlägen veröffentlichte sie in der israelischen Zeitung Haaretz einen Meinungsartikel mit dem Titel "Deutschland, du hast deine Verantwortung längst verraten".

Eine Frau in schwarzer Kleidung bindet sich ein Kopftuch zu, hinter ihr steht eine andere Frau
Film-Still aus "Shikun" mit Bahira Ablassi (vorne) und Irène JacobBild: Agav Films

Gitais Film schließt mit einem Zitat aus dem Gedicht "Think of Others" des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwish (1941-2008).

Gitai: "Netanjahu ist eine Bedrohung für Israel"

Der Film "Shikun" mag sich für einige Zuschauerinnen und Zuschauer, die mit den Gegebenheiten in Israel nicht vertraut sind, kryptisch anfühlen, doch Gitai macht seine Ansichten über die derzeitige israelische Regierung auf der Berlinale sehr deutlich. Er betont, dass die brutalen Terroranschläge der Hamas in keiner Weise zu rechtfertigen seien, stellt aber auch klar, dass sein Heimatland "eine Geisel von Netanjahus rechtsextremer Koalition" sei.

Gegenüber der DW führt Gitai aus, dass Netanjahu ein "Manipulator auf höchstem Niveau" sei, der "Israel zerstören könnte". Weil der israelische Ministerpräsident keine moralischen Skrupel habe, "hat er die schlimmsten Teile der israelischen Gesellschaft um sich geschart: die ultranationalistischen, rassistischen, extremistischen Provokateure, die ultraorthodoxen Reaktionäre, die gegen Frauen und gegen die LGBTQ-Community sind".

Deutschland soll eine "stärkere moralische Haltung einnehmen"

Ein weiterer Film, der den Nahostkonflikt auf der Berlinale thematisiert, ist "No Other Land". Er wurde von einem palästinensisch-israelischen Kollektiv gedreht.

Der Dokumentarfilm schildert die Geschichte von Basel Adra, einem jungen palästinensischen Aktivisten und einem der Co-Regisseure des Films. Seit Jahren kämpft er gegen die Auslöschung seines Dorfes Masafer Yatta im israelischen Westjordanland. Dort werden Häuser abgerissen und Bewohner vertrieben, weil die israelische Armee an diesem Ort einen Truppenübungsplatz bauen will.

 Yuval Abraham, Hamdan Ballal, Rachel Szor und Basel Adra (von links nach rechts) stehen vor einer Wand mit Berlinale-Aufschrift
Die Regisseure von "No Other Land" (von links nach rechts): Yuval Abraham, Hamdan Ballal, Rachel Szor und Basel AdraBild: Monika Skolimowska/dpa/picture alliance

Der israelische Journalist Yuval Abraham unterstützt Adra bei seinen Bemühungen,  gegen die Ungerechtigkeit der israelischen Besatzung vorzugehen.

Die israelische Unterdrückung führe unweigerlich zu Gewalttaten, so die Aktivisten im Film. Deshalb sei es um so wichtiger, dass der Westen mehr Druck auf die israelische Regierung ausübe, um die Besatzung zu beenden.

"Ich weiß, dass die Deutschen große Schuldgefühle wegen der Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg haben", sagt Abraham im DW-Interview. Viele seiner Verwandten seien während des Holocausts umgekommen. Aber diese Schuld solle jetzt nicht "als Waffe" eingesetzt werden, um sich dagegen zu weigern, einem Waffenstillstand zu fordern. Vielmehr solle Deutschland diese Schuldgefühle nutzen, um "dabei zu helfen, eine politische Lösung zu erreichen! Sie nutzen, um Druck auf den Staat Israel auszuüben und die Besatzung zu beenden", sagt der israelische Dokumentarfilmer. "Das wäre für mich die angemessene moralische Haltung der Regierung."

Adaption aus dem Englischen: Kevin Tschierse