Ausländerrecht überfordert sogar Juristen
19. April 2018Zwölf Menschen hat der aus Tunesien stammende Islamist Anis Amri wenige Tage vor Weihnachten 2016 in Berlin getötet. Dem Entsetzen über den schlimmsten religiös motivierten Terror-Anschlag in Deutschland folgte die Fassungslosigkeit über das Ausmaß des Behörden-Versagens. Zeugnis davon legte im Oktober 2017 der vom Berliner Senat beauftragte Sonderermittler Bruno Jost ab. In Nordrhein-Westfalen und Berlin bemühen sich parlamentarische Untersuchungsausschüsse schon seit längerem um Aufklärung. In diesen beiden Bundesländern hielt sich der unter verschiedenen Namen als Flüchtling registrierte Amri überwiegend auf.
Im Februar konstituierte sich auch im Bundestag ein Ausschuss, der am Donnerstag erstmals öffentlich tagte. Geladen waren acht von den Fraktionen benannte Sachverständige – mit einer Ausnahme Juristen. Was die Experten sagten, dürfte bei den Abgeordneten der sechs Fraktionen einiges Erstaunen ausgelöst haben. Denn vor allem die anwesenden Fachanwälte verblüfften mit einem offenherzigen Geständnis: Sie fühlen sich wegen der komplexen und ständig veränderten Rechtslage überfordert.
"Selbst als Volljurist schafft man das nur sehr schwer"
Der auf Asyl- und Ausländerrecht spezialisierte Thomas Oberhäuser verwies auf rund 30 Änderungen des Aufenthaltsrechts seit 2011. Das mache es für Anwender extrem schwierig. "Selbst als Volljurist schafft man das nur sehr schwer", sagte der in Ulm (Baden-Württemberg) tätige Anwalt. Sein Kollege Rolf Stahmann berichtete über ähnliche Erfahrungen. Der auf Migrationsrecht spezialisierte Berliner gibt selbst Kurse zum Thema Ausländerrecht – und räumte ein: "Was ich den Kursteilnehmern bei der letzten Ausbildung erklärt habe, ist bei der nächsten nicht mehr gültig."
Stahmanns Tipp an die Politik: "Etwas mehr Gelassenheit bei der Gesetzgebung wäre hilfreich." Auch der in Frankfurt (Hessen) ansässige Rechtsanwalt Stephan Hocks sieht die häufigen Gesetzesänderungen kritisch. "Rechtsabbau ist nicht die richtige Reaktion", sagte er und beklagte ein "Umsetzungsdefizit" bei den Behörden. Erstaunt sind Hocks und die anderen Kritiker angesichts der vielen Reformen darüber keinesfalls. Wenn schon Juristen den Überblick verlieren, wie sollen es dann Sachbearbeiter in Ausländerbehörden schaffen?
"Das Asyl-System ist ein Lügen-System"
Trotz dieser Analyse hätte vieles im Fall Amri besser laufen können. Das glaubt jedenfalls Marcel Kau, der an der Universität Konstanz Öffentliches Recht sowie Europa- und Völkerrecht lehrt. Zwar habe der Bund nur eingeschränkte Eingriffsmöglichkeiten, wenn es um die Abschiebung eines Gefährders wie Amri geht. Aber aufgrund der Erkenntnisse des Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrums von Bund und Ländern (GTAZ) hätte das Bundesinnenministerium tätig werden können – oder gar sollen, sagte Kau.
Kritik an den Staatsanwaltschaften übte Hans Eckard Sommer, der im bayrischen Innenministerium für Ausländer- und Asylrecht zuständig ist. Trotz Informationen über Amris Drogenhandel und andere Delikte sei keine Untersuchungshaft beantragt worden. Und Dieter Amann, einziger Nicht-Jurist unter den Sachverständigen, erklärte die ganze Asyl-Politik für gescheitert.
Der Verwaltungsexperte von der Fachhochschule Kehl (Baden-Württemberg) hält es für unwahrscheinlich, dass Ausländerbehörden in Großstädten mit einem Ausländeranteil von über 20 Prozent ihre Arbeit bewältigen könnten. "Das Asyl-System ist ein Lügen-System, das keinen Bestand haben sollte", sagte Amann, ohne seine Behauptung zu begründen.
Ausschuss-Chef rechnet trotzdem mit Gesetzesreformen
Ob und welche Anregungen der Untersuchungsschuss des Bundestages aus der Experten-Anhörung zieht, wird sich womöglich erst am Ende der Legislaturperiode 2021 zeigen. So lange kann der Ausschuss theoretisch tagen und Zeugen befragen. Der Vorsitzende Armin Schuster ist sich aber schon jetzt sicher, dass es wieder zu Gesetzesänderungen kommen wird. Das sagte der Christdemokrat gegenüber dem Rundfunksender Berlin-Brandenburg wenige Stunden vor der ersten öffentlichen Sitzung des Amri-Untersuchungsausschusses. Zu diesem Zeitpunkt konnte er höchstens ahnen, wie nachdrücklich die meisten Juristen vor weiteren Gesetzesreformen abraten.