"Cameron spielt hohes Risiko mit Brexit"
20. Juni 2016Deutsche Welle: Herr Asselborn, der britische Premier David Cameron hat den Tiger am Schwanz gezogen. Jetzt muss er den Tiger reiten: Das Referendum kommt. Was bedeutet das für die EU?
Jean Asselborn: Ich habe in den vergangenen zwölf Jahren keinen Moment erlebt, wo ich gedacht habe, es wäre gut, wenn Großbritannien uns verlassen würde. Darum hoffe ich! Cameron ist ein sehr, sehr großes Risiko eingegangen und ich weiß nicht, ob er es meistern kann. Ich weiß nur, dass noch im Mai die wirtschaftlichen Fragen im Vordergrund standen und da waren die Resultate in den Umfragen auch einigermaßen positiv. Seit 14 Tagen überwiegt die Debatte um Souveränität, ob Großbritannien eine Großmacht ist und den Ballast aus Brüssel besser ablegen sollte. Was mich beruhigt, ist die Erkenntnis, dass ein Drittel der Menschen im Vereinigten Königreich sich erst in der Wahlkabine entscheidet. Und da könnte der Pragmatismus siegen, wie man so schön sagt. Es sind immerhin 2,3 Millionen Arbeitsplätze, die vom Export Großbritanniens in die EU abhängen. Ich bin überzeugt, dass man zumindest im Hinterkopf sich viele Gedanken macht, was passiert, wenn wieder Zoll gezahlt werden muss und der Binnenmarkt kaputt ist.
Und wenn das nicht reicht und der Brexit trotzdem kommt?
Wenn es geschieht, dann ist es geschehen. Es ist "one shot" - ein Versuch. Wenn es geschieht, dann heißt es, dass wir einen Weg finden müssen, wie künftig die Europäische Union und die Briten - ähnlich der Schweiz - zusammenarbeiten müssen.
Was haben die europäischen Politiker falsch gemacht, dass sich diese eigentlich ja britische Debatte so stark auf Europa auswirkt?
Ich glaube nicht, dass dies ein europäisches Phänomen ist. Das ist ein Streit in der konservativen Partei von David Cameron. Es war ein großes Risiko, diesen Streit mit einem Referendum auszutragen. Jeder, der schon einmal mit einer Volksabstimmung zu tun hatte, weiß, wie schwierig es ist, ein Referendum zu gewinnen. Den Streit hätte man auch durch demokratische Debatte parlamentarisch lösen können.
Sie sagen, wenn die Briten gehen, dann ist Europa amputiert. Kann es dann noch weiter funktionieren und was bietet man den Briten an?
Es ist nicht an der EU, den Briten etwas anzubieten. Es gibt dann Verhandlungen, in denen es um sehr viel Geld geht. Das werden sehr harte Verhandlungen werden, die vielleicht Monate, wenn nicht Jahre dauern. Europa kann nicht in die Knie gehen. Europa hat eine Verantwortung für die Generationen, die kommen. Es wäre besser mit Großbritannien. Wenn es nicht sein soll, dann müssen wir uns zusammenraufen. Es muss sich zeigen, ob die 27, die dann noch da sind, fähig sind, das Projekt im Sinne der Menschen weiterzuführen, die Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben. Da geht es nicht um Verträge. Es geht nicht um Kompetenzen. Es geht darum, die Frage zu beantworten: Brauchen wir Europa dazu - ja oder nein? Wenn wir ja sagen, dann muss es funktionieren, leider dann ohne Großbritannien.
DW-Spezial zum Referendum: Gehen oder bleiben?
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat gesagt, nach dem Brexit-Referendum könne man nicht so weitermachen wie bisher, egal wie es ausginge. Mehr Integration könne nicht die Antwort sein. Was sagen Sie dazu?
Wissen Sie, solange es Europa gibt, wird entweder das Gemeinschaftliche angestrebt oder es kommt zur Desintegration. Da hat man keine große Wahl, auch wenn man das jetzt so oder so politisch formuliert. Ich sage noch einmal, es geht jetzt nicht um eine Debatte über Vertragsänderungen. Man sollte mit den Verträgen arbeiten, die man hat - immer wissend, dass man das schöne Wort nicht vergisst, das von Engländern geprägt wurde: "Ever closer union".
Wie groß ist die Gefahr, dass nach einem Brexit, das Verlassen der Union sehr populär wird?
Ich glaube nicht, dass das populär wird, wenn man erst einmal die Konsequenzen sieht. Vor dem 23. Juni liegen die ja nicht auf dem Tisch. Wenn die von anderen Ländern dann erst einmal gesehen werden, dann bin ich nicht überzeugt, dass da viel Nachahmungseffekt bestehen wird - rein wirtschaftlich und sozial gesehen. Aber ich weiß, dass es Komplikationen mit einigen Ländern in Osteuropa gibt, dass man vielleicht einen Weg sucht, mit weniger Institutionen und Bürokratie. Aber die EU ist nicht nur eine institutionelle Angelegenheit. Die ist gewachsen, damit kein Krieg mehr in Europa möglich ist und, das muss man immer wieder betonen, auch für die soziale Frage. Ist Europa im Stande, die soziale Frage für die Menschen so zu lösen, dass sie Sicherheit, eine Zukunft haben und eine Motivation, sich für ihre Länder einzusetzen?
Jean Asselborn (67) ist seit 2004 Außenminister von Luxemburg, einem der Gründerstaaten der Europäischen Union. Der sozialdemokratische Politiker ist der dienstälteste Außenminister in der Europäischen Union.