Irland, Nordirland und der Brexit
19. Juni 2016Eine Ausstellung in Belfast erinnert zur Zeit an ein Jahr in der Geschichte, in dem die Iren besonders gegensätzliche Erfahrungen machten: 1916 begannen Rebellen in Dublin den Osteraufstand gegen die Briten, den diese brutal niedergeschlugen. Gleichzeitig kämpften und starben Tausende Männer aus Nordirland als Soldaten der britischen Truppen im Ersten Weltkrieg.
Hundert Jahre später ist Irland ein friedliches Land. Doch die Politik treibt die Menschen weiterhin auseinander, insbesondere im Norden der Insel. Denn in wenigen Tagen werden auch die Nordiren über den Brexit abstimmen. Umfragen deuten darauf hin, dass die meisten nordirischen Wähler für einen Verbleib Großbritanniens in der EU stimmen werden.
"Die EU nagelt uns fest"
An der überwiegend von Protestanten bewohnten Woodvale Road in West-Belfast liegt Sammys Metzgerei. Auf dem Tresen, zwischen Wurstpackungen und Eierkartons, erhebt sich stolz ein Plakat, das an die Schlacht an der Somme 1916 erinnert. Geschäftsinhaber Nathan Mooney hat sich bereits entschieden, wie er am 23. Juni, dem Tag des Referendums, stimmen wird.
"Ich bin für den Austritt. Die ganze Bürokratie, durch die wir festgenagelt sind - das ist einfach zu viel." Außerdem überweise Großbritannien zu viel Geld an die EU, ist der Metzger überzeugt. Die Anhänger des Brexits behaupten, die Höhe der Überweisungen belaufe sich auf umgerechnet 443 Millionen Euro pro Woche. Brexit-Gegner erklären hingegen, Großbritannien überweise gerade mal die Hälfte dieses Betrages.
Heute ist es in Belfast zwar viel ruhiger als während der drei Jahrzehnte mit Aufständen gegen die britische Besatzung, die über 3.000 Menschen das Leben gekostet haben. Doch der rund fünf Meter hohe Zaun zwischen den protestantisch-unionistischen und den katholische-nationalistischen Vierteln in West-Belfast steht immer noch. Auf der anderen Seite der "Friedensgrenze" ist die Haltung gegenüber der Europäischen Union weniger skeptisch.
"Die Grenze wäre dicht"
"Ich werde nicht abstimmen. Aber wenn ich es täte, würde ich mich für einen Verbleib aussprechen. Das ist besser fürs Geschäft", sagt Sean Morgan. Er steht umgeben von Kelten-Trikots, Nachbauten historischer Waffen und Kopien der Proklamation von Irland in seinem Laden "Fenians". Die Fenians waren im 19. Jahrhundert irische Republikaner, die sich für ein vereintes Irland einsetzten.
Sean Morgan befürchtet, dass im Fall eines Brexits eine neue Grenze zwischen Nordirland und Republik Irland entstehen könnte. Die ist bisher immer durchlässig gewesen, weil ein Abkommen sogar wären des Nordirlandkonflikts das Passieren erleichterte.
"Wenn die Republik in der EU bleibt und wir sie verlassen, wird es Chaos an der Grenze geben", sagt er im Gespräch mit der DW. "Dann sehe ich keine andere Möglichkeit, als die Grenze dicht zu machen." Tatsächlich heißt es in einem kürzlich veröffentlichten Bericht von Abgeordneten des Nordirland-Ausschusses, im Fall eines Brexit sei das ungehinderte Reisen in Frage gestellt.
Auch der irische Premier Enda Kenny sprach jüngst davon, Grenzkontrollen könnten wieder eingeführt werden, falls Großbritannien die EU verlasse. Die ehemaligen britischen Regierungschefs John Major und Tony Blair warnten, ein Brexit könnte den nordirischen Friedensprozess untergraben und die Diskussion um eine vereinigtes Irland neu entfachen.
"Der Friedensprozess zerfällt"
Auch Duncan Morrow von der Universität Ulster glaubt, ein Brexit könnte den Friedensprozess ins Wanken bringen. "Dies ist wahrscheinlich die wichtigste Wahl, die wir je erlebt haben", sagte er im Gespräch mit der DW. "Nordirland wird von einem feinen Faden zusammengehalten. Dieses Netz könnte jetzt aufribbeln."
Dieser Dispute verläuft entlang klarer Linien: Die radikal-protestantische Democratic Unionist Party (DUP), die in der Nordirland-Versammlung die meisten Mitglieder stellt, spricht sich für einen Brexit aus. Fast alle anderen großen Parteien sind dafür, dass Großbritannien in der EU bleibt.
"Der Commenwealth reicht als Markt"
Im Jahr 1998 stimmten rund 70 Prozent der nordirischen Wähler für das Karfreitags-Abkommen, das den Nordirlandkonflikt beendete. Fast zwei Jahrzehnte später rechnet man damit, dass ähnlich viele Menschen für den Verbleib in der EU votieren, erklärt Morrow.
"Die Stimmen gehören jetzt der gleichen Koalition an, die damals das Karfreitags-Abkommen unterstützten. Alle Mitglieder des nationalistischen Lagers sowie die Hälfte der Protestanten wollen, dass Großbritannien in der EU bleibt."
Sammy Wilson, Parlamentsmitglied der DUP und einer der führenden Brexit-Befürworter, widerspricht. "Ohne die Fesseln der Europäischen Union ginge hier vieles erheblich leichter", sagt Wilson. "Der Commonwealth ist ein Markt von 1,2 Milliarden Menschen. Auf ihn sollten wir uns konzentrieren anstatt auf die stagnierende EU."
"Keine Garantie für Agrarsubventionen"
Nordirland ist stärker von der Landwirtschaft abhängig als andere Teile des Vereinten Königreichs. Ein Drittel der gut anderthalb Millionen Menschen lebt in ländlichen Gebieten. Für die gut 24.000 nordirischen Bauernhöfe machen die EU-Direktzahlungen rund 87 Prozent ihrer jährlichen Betriebseinkommen aus.
Die ehemalige nordirische Landwirtschaftsministerin Michelle O'Neill erklärte, ein Brexit käme einem "großen Glücksspiel" gleich. Bislang gebe es keine Garantie, dass das britischen Finanzministerium die Subventionen ersetzen werde.
Der Unionist Sammy Wilson ist mit dieser Analyse nicht einverstanden: "Viele kleine Bauern werden für den Brexit stimmen. Wenn wir die EU verlassen, gibt es keinen Grund, dass die Agrarsubventionen auslaufen sollten."
Fakten und Fiktion
Nordirland gilt in der britischen Politik als ein ganz besonderer Fleck mit ganz eigenen Themen und Parteistrukturen. Aber wenn es um den Brexit geht, unterscheiden sich die Nordiren von den Engländern wenig. Die Aktivisten beider Richtungen stellen Zahlen, Vermutungen und gelegentlich Beleidigungen in den Raum. Und beide lassen die Wähler damit allein, Fakten von Fiktion zu trennen.