Arnold: "NATO-Zusagen nicht zu erfüllen"
28. September 2014DW: Die Bundeswehr ist inzwischen so schlecht ausgestattet, dass Deutschland nicht einmal mehr seinen NATO-Verpflichtungen nachkommen kann. Sind Sie vom tatsächlichen Ausmaß der Mängel bei der Bundeswehr überrascht?
Rainer Arnold: Nein, es überrascht mich bei bestimmten Fähigkeiten nicht. Es ist nicht so, dass die Bundeswehr insgesamt ihren Anforderungen nicht mehr nachkommen kann. Es gibt aber Mängelfähigkeiten. Man kann im Prinzip sagen: Alles, was fliegt, ist äußerst problematisch und die Zusagen, die wir gegenüber der NATO eingegangen sind, sind derzeit nicht zu erfüllen.
Würde also beispielweise ein Land im Baltikum angegriffen und der NATO-Verteidigungsfall ausgerufen werden - könnte Deutschland dann nicht mitmachen?
Wir hätten nicht alle Fähigkeiten zur Verfügung. Käme es allerdings nach Artikel fünf des NATO-Vertrages zum Bündnisfall, dann würden andere Spielregeln gelten. Dann würden einige Dinge, die derzeit aus Sicherheitsgründen sehr eng gesehen werden, möglicherweise nicht so eng interpretiert werden. Das ist aber eine abstrakte Debatte, wir gehen nicht davon aus, dass die NATO einen Krieg führen muss. Die Frage ist jetzt, ob wir im Rahmen internationaler Krisenbewältigung in der Lage sind, Verpflichtungen einzugehen. Und da sehen wir, dass es aktuell erhebliche Probleme gibt.
Als die Bundeswehr am vergangenen Mittwoch (24.09.2014) dem Verteidigungsausschuss ihren Bericht vorgelegt hat, dürften Sie ziemlich gestaunt haben.
Wir haben nicht nur gestaunt, wir haben uns vor allem auch geärgert, weil es mal wieder notwendig war, dass das Parlament die Streitkräfte und die Bundesregierung zwingen musste, die Fakten auf den Tisch zu legen. Die Gesamtschau, die uns vorgelegt wurde, ist natürlich in der Addition problematisch. Geärgert haben wir uns aber auch deshalb, weil wieder ein Versuch gestartet wurde, schönzureden und weichzuzeichnen. Hier wurde alles in eine Kategorie gefasst: "Einsatzfähig". Bei genauer Betrachtung ist es aber viel differenzierter: Ein Gerät, mit dem man üben kann, bei dem aber Ersatzteile fehlen oder bei dem Waffen fehlen, das kann zwar fliegen oder fahren, aber es ist noch lange nicht einsatzfähig. Dies hat man uns nicht von vornherein auf den Tisch gelegt, sondern wir mussten hartnäckig nachfragen.
Hat die Bundeswehr das Parlament getäuscht?
So weit würde ich nicht gehen, wir lassen uns nicht täuschen. Wir sind schon in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen - das ist also nicht das Problem.
Wer ist Ihrer Ansicht nach Schuld an der Lage?
Bei den Streitkräften wurden seit zwei Jahren keine Entscheidungen getroffen. Unter Minister Thomas de Maizière gab es ein verlorenes Jahr. Die Hauptursache liegt in seiner verfehlten Reform. Die Bundeswehrreform mit dem Ziel "Breite vor Tiefe" hat dazu geführt, dass wir zwar alles behalten haben, aber alles nur mittelmäßig oder nur schlecht beherrschen. Das ist keine kluge Struktur, auch nicht mit Blick auf unsere europäischen Verbündeten. Wir müssen Fähigkeiten, die im Bündnis wichtig sind, stärken, statt alles ins Mittelmaß abzusenken. Frau von der Leyen muss jetzt sagen: "Diese Reform hat Fehler und ich korrigiere sie."
Ursula von der Leyen hatte doch bereits im Februar 2014 angekündigt, den Rüstungssektor neu ordnen zu wollen. Was ist in der Zeit seitdem denn geschehen?
Ein externes Team hat die Prozesse durchleuchtet, die Ergebnisse werden Anfang Oktober vorliegen. Daraus muss die Ministerin Konsequenzen ziehen, wenn es um Strukturen und Prozesse bei den Streitkräften geht und auch um Instandhaltung und Ersatzteile. Es müssen Entscheidungen getroffen werden, damit Rüstungsvorhaben, die schon lange in der Pipeline sind, endlich aufs Gleis gesetzt werden.
Hat vielleicht auch der Verteidigungsausschuss nicht oft genug nachgehakt, waren Sie nicht fordernd genug gegenüber der Bundeswehr?
Wir fordern die ganze Zeit. Meine Arbeitsgruppe hat bereits im Frühjahr ein Papier vorgelegt, wo wir die Fehler sehen. Es waren ja auch schon Verteidigungspolitiker, die Herrn de Maizière gezwungen haben, das Drama beim Eurohawk aufzuarbeiten - bis hin zum Untersuchungsausschuss. Es gibt keinen Mangel an Fragen aus dem Verteidigungsausschuss. Wir kriegen häufig erzählt, was alles nicht geht. Unsere Erwartung muss jetzt sein, zu jedem Problem einen Lösungsvorschlag präsentiert zu bekommen.
Was muss denn jetzt passieren?
Es ist eine lange Liste, die abzuarbeiten ist. Das wichtigste war erstmal, dass man diese Wirklichkeit annimmt, die Probleme nicht weiter schönredet. Das sage ich auch dem ein oder anderen Kollegen in der Koalitionsfraktion bei der Union, damit die nicht die Augen verschließen. Wir dürfen nicht überall Mittelmaß sein, sondern müssen Schwerpunkte bilden. Wir müssen nicht nur das Personal bei der Instandhaltung stärken. Wir müssen uns auch dieses große Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung in Koblenz organisatorisch genau anschauen. Wir dürfen nicht so wie in der Vergangenheit bezahltes, gut funktionierendes Gerät ausmustern oder billig verscherbeln.
De Maizières Zielvorgabe war es, nur noch 80 Prozent der Ausstattung zu haben, das war keine kluge Ansage. Wir brauchen hundert Prozent! Das alte Gerät steht teilweise zur Verfügung, das muss man reaktivieren. Kurzfristig muss man den Haushaltsstitel für Instandsetzung stärken, langfristig muss der Verteidigungsetat wieder wachsen. Und, als letztes: Auch die Industrie hat Verantwortung. Sie hält Zusagen nicht ein. Das Ministerium muss unsere Ansprüche, bis hin zu Regress, exemplarisch durchsetzen. Das greift alles nicht morgen, muss aber jetzt angegangen werden, sonst werden wir Jahr für Jahr die gleiche Dramatik erleben.
Rainer Arnold (SPD) ist seit 2002 verteidigungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag.