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100. Jahrestag zum Völkermord an den Armeniern

Richard A. Fuchs, Berlin 7. April 2015

Seit Jahren windet sich Deutschlands Politik bei der Frage, ob der Völkermord an den Armeniern auch als solcher bezeichnet werden darf. Kurz vor dem 100. Jahrestag des Genozids geht das Hin und Her in eine neue Runde.

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Tod und Zerstörung im Oktober 1915 in Aleppo (Foto: Auswärtiges Amt)
Bild: Auswärtiges Amt

Am 24. April jährt sich der Beginn des Genozids an den Armeniern zum 100. Mal. Doch statt angemessenen Gedenkens gibt es Streit im Deutschen Bundestag. Eine Stunde will das Parlament am Jahrestag über das Verbrechen an den armenischen Christen auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches debattieren. Statt fraktionsübergreifender Einigkeit herrscht Dissens. Grüne und Linkspartei sprechen sich dafür aus, den Völkermord zwischen 1915 und 1916 auch als solchen zu benennen.

Genau das wollen die Spitzen der Regierungskoalition von Union und SPD verhindern. Zu groß ist wohl ihre Angst, eine deutsche Einstufung der Massaker als Völkermord könne zu einer diplomatischen Eiszeit in den Beziehungen zur Türkei führen. Ankara lehnt jede Anerkennung des Geschehenen als Völkermord ab. Der SPD-Politiker Dietmar Nietan sagte dem Berliner "Tagesspiegel" dazu: "Ich persönlich bin enttäuscht, dass es anscheinend an entscheidender Stelle an Mut fehlt, einmal auszusprechen, was wirklich geschehen ist."

"Eine Entschuldigung wäre genug"

Nachfahren der Überlebenden riefen Bundesregierung und Bundestag jetzt dazu auf, genau das zu tun. "Eine Entschuldigung wäre genug", sagte Ergün Ayik der Nachrichtenagentur dpa. Ayik ist Vorsitzender der Stiftung St.-Giragos-Kirche in der südtürkischen Stadt Diyarbakir. Es ist das größte armenische Gotteshaus im Nahen Osten. Und auch der armenische Historiker Ashot Hayruni von der Staatsuniversität Eriwan sieht Deutschland in der Pflicht: "Es ist wichtig, dass vom deutschen Parlament ein Beschluss angenommen wird, in dem der Völkermord als solcher anerkannt und verurteilt wird." Zudem solle die Bundesregierung aktiv auf die Türkei einwirken, um diese zum Einlenken zu bewegen.

St.-Giragos-Kirche im türkischen Diyarbakir (Foto: picture-alliance/dpa/Can Merey)
Nachfahren der Opfer leben nahe der armenischen St.-Giragos-Kirche in Diyarbakir in AnatolienBild: picture-alliance/dpa/Can Merey

Zahlreiche Vertreter der deutschen Zivilgesellschaft verurteilten das anhaltende Zögern des Bundestages, den Armenier-Genozid beim Namen zu nennen. "Auch Ignoranz kann vielsagend sein", sagte die Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters Sermin Langhoff der Zeitung "Tagesspiegel". Langhoff, die dem Gedenken an den Völkermord eine eigene Programmreihe in ihrem Theater gewidmet hat, hält das Verhalten des Bundestages für ein fatales Signal. "Eine große Lücke in der europäischen Erinnerungskultur" werde damit nicht geschlossen, betonte sie.

Markus Meckel, DDR-Bürgerrechtler und ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordnete, fühlt sich durch die aktuelle Debatte sogar um zehn Jahre zurückgeworfen. Im Jahr 2005 befasste sich der Bundestag zum ersten Mal mit der Frage. Auch damals galt, dass mit Rücksicht auf die Türkei keine Resolution verabschiedet werden konnte, die den Begriff Völkermord enthielt. Nach langem Hin und Her stand damals in dem Papier, dass die Deutschen sich für die "unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches" entschuldigten. Mehr war damals nicht möglich. Und auch jetzt droht der Bundestag genau hier stehenzubleiben, glaubt Meckel: "Jeder, der diesen Begriff verweigert, macht im Grunde das erfahrene Leid und die Katastrophe kleiner als sie war."

Früherer SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel (Foto: imago/Christian Thiel)
Markus Meckel fordert klare Worte von der BundesregierungBild: imago/Christian Thiel

Die Deutschen haben alles gewusst

Dass das deutsche Kaiserreich in die Deportation der Armenier verstrickt war, gilt unter Historikern seit langem als Fakt. Umstritten war dagegen lange, welche Rolle die Deutschen genau spielten. Waren sie Zeugen - oder gar Mittäter? Je nach Schätzung fielen dem Genozid an den Armeniern zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. In Armenien wird diese Katastrophe "Aghet" genannt - und als Völkermord bezeichnet. In der Türkei dagegen, dem Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, gilt das Leid von damals offiziell noch immer als "kriegsbedingte Vertreibung und Sicherheitsmaßnahme". Auch die Opferzahlen werden von der Türkei bestritten, was eine Aussöhnung der Länder verhindert.

Historisches Bild aus der Stadt Erzurum im Jahr 1915 (Foto: Auswärtiges Amt)
Deutsche Offiziere und Diplomaten schauten bei Massenvertreibungen und Hinrichtungen von Armeniern wegBild: Auswärtiges Amt

Für Historikerin Christin Pschichholz von der Universität Potsdam steht inzwischen zweifelsfrei fest: "Die deutsche Regierung war umfassend über die Vernichtungspolitik gegen die armenische Bevölkerung im Osmanischen Reich informiert", so ihr Fazit nach der Durchsicht der Akten des Auswärtigen Amtes. Todesmärsche, Hinrichtungen und Zwangsarbeit - akribisch notierten deutsche Diplomaten alles, was sich zu jener Zeit um sie herum abspielte. Historiker Rolf Holsfeld vom Lepsiushaus in Potsdam folgert daraus: "Die Aussage, dass auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches in den Jahren 1915 und 1916 ein Völkermord stattgefunden hat, ist seit nunmehr 100 Jahren deutsches Regierungswissen."

Aus Rücksicht auf Erdogan

Regierungswissen, das sich nicht im deutschen Regierungshandeln widerspiegelt. Denn Vertreter der Bundesregierung vermeiden seit jeher die Nutzung des Wortes Völkermord im Zusammenhang mit Armenien. Stattdessen wird über "Massaker" und "Vertreibungen" gesprochen. In einer Kleinen Anfrage der Linkspartei im Bundestag griff die Bundesregierung im Februar 2015 erneut auf diese Sprachregelung zurück. Die Begründung: Man wolle die Aussöhnung zwischen Armeniern und Türken nicht gefährden. Die begriffliche Einordnung, so die Regierungslinie, überlasse man Wissenschaftlern.

Armenien und mehr als 20 weitere Länder stufen die Vorgänge dagegen als Völkermord nach der entsprechenden UN-Konvention aus dem Jahr 1948 ein. Vor gut einem Jahr durchbrach der damalige Ministerpräsident und jetzige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, das jahrzehntelange Schweigen seines Landes. Er entschuldigte sich bei den Opfern und ihren Nachfahren und sprach von "unmenschlichen Folgen", die die damaligen Vertreibungen der Armenier versursacht hätten. Von Völkermord sprach er nicht.

Szene eines Völkermordes in Aleppo im heutigen Syrien (Foto: Auswärtiges Amt)
Szene eines Völkermordes in Aleppo im heutigen Syrien: Armenier auf der Flucht vor 100 JahrenBild: Auswärtiges Amt

In kleiner Besetzung nach Eriwan

Inzwischen richten sich alle Augen auf die Gedenkfeier am 24. April in der armenischen Hauptstadt Eriwan. Und auch bei der Entsendung der deutschen Delegation scheint die Rücksicht auf türkische Befindlichkeiten erneut das Drehbuch zu schreiben. So wird Deutschland nur in kleiner Besetzung anreisen. Nach DW-Informationen werden der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Christoph Strässer und der Parlamentarische Staatssekretär im Auswärtigen Amt Michael Roth nach Eriwan reisen.

Weder Bundeskanzlerin noch Außenminister werden anwesend sein, an einem Termin, an dem sich zahlreiche weitere Staats- und Regierungschefs angekündigt haben - darunter Frankreichs Staatspräsident François Hollande. Grünen-Chef Cem Özdemir, der im März durch Armenien gereist ist, verurteilte im "Tagesspiegel" das deutsche Verhalten scharf: "Aus falscher Rücksichtnahme auf Herrn Erdogan spielt die Bundesregierung den Völkermord an den Armeniern runter - ein würdevolles Verhalten gegenüber den Opfern und ihren Nachfahren sieht anders aus."