Machtwechsel, schnell und unblutig
23. April 2018Es sieht aus, als sei die Liste der Revolutionen im postsowjetischen Raum gerade länger geworden. Nach Georgien 2003, der Ukraine 2004 und 2014 und Kirgisistan 2005 haben auch in Armenien Straßenproteste zu einem Machtwechsel geführt. Ministerpräsident Sersch Sargsjan trat am Montag überraschend zurück. Wenige Stunden zuvor gab es Berichte, wonach sich möglicherweise Soldaten den Protestlern angeschlossen hatten. Zum Übergangsministerpräsidenten wurde der bisherige Vize-Regierungschef Karen Karapetjan ernannt.
Was Sarkissjan zum Verhängnis wurde
Der 63-jährige Sargsjan war weniger als eine Woche in dem Amt, mit dessen Hilfe er seine Herrschaft über die ehemalige Sowjetrepublik im Südkaukasus zu verlängern gehofft hatte. Nach zwei Amtszeiten als Präsident, 2008 bis 2018, wollte Sargsjan als Regierungschef weiter regieren. Die Grundlage dafür legte er bereits 2015, als er sein Land in einem Referendum in eine parlamentarische Republik umwandeln ließ. Dabei versprach er, selbst nicht anzutreten - und tat es dann doch. Das Parlament wählte Sargsjan am 17. April zum neuen Regierungschef. Dieses gebrochene Versprechen wurde ihm offenbar zum Verhängnis.
"Das hat sicher damit zu tun, dass die armenische Bevölkerung - und das sind nicht nur die Bürgerinnen und Bürger der Hauptstadt Jerewan, da Proteste ja seit Tagen landesweit stattfanden - ihren Willen ziemlich konsequent gezeigt haben", sagte Nino Lejava, Büroleiterin der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung im Südkaukasus, der Deutschen Welle. "Es muss auch damit zu tun haben, dass sich die Unzufriedenheit mit dem System Sargsjan und der Republikanischen Partei schon seit mehreren Jahren vertieft hatte." Der Präsident und seine Partei hätten versucht, mit einer Verfassungsreform "das politische System so zu verändern, dass für Sargsjan die Machtzeitverlängerung noch möglich gewesen wäre". Das habe zu den Protesten geführt, meint Lejava.
Oppositionsführer in Tarnkleidung
Dabei gärte es in Armenien mit seinen knapp drei Millionen Einwohnern schon länger. Bereits bei der ersten Wahl Sargsjans zum Präsidenten, 2008, gab es Unruhen, die niedergeschlagen wurden. Zehn Menschen starben. Zuletzt gingen Armenier 2015 massenhaft auf die Straßen, um gegen Preiserhöhungen für Strom zu demonstrieren. Mit Erfolg: Der Präsident setzte die Maßnahme aus.
Die jetzige Protestbewegung, die in elf Tagen einen Machtwechsel herbeigeführt hatte, entstand in erster Linie als Reaktion auf Armut und Korruption, Dauerprobleme in Armenien. Sargsjans Wahl zum Ministerpräsidenten wirkte wie ein Katalysator. Zehntausende legten am Wochenende die Hauptstadt lahm. Der Protest wurde vor allem von jungen Menschen getragen.
Oppositionsführer Nikol Paschinjan, ehemaliger Journalist und jetzt Parlamentsabgeordneter, wurde zunächst festgenommen, dann freigelassen. Sein dreiminütiges Treffen am Wochenende mit Sargsjan erscheint im Nachhinein wie ein Vorbote des Machtwechsels. Es waren seltsame Bilder, die im Fernsehen live übertragen wurden: Der Ministerpräsident saß an einem kleinen Tisch in einem Hotel neben seinem Herausforderer. Der 42-jährige Paschinjan wirkte wie ein Straßenkämpfer: grauer Bart, grünes T-Shirt mit Tarnmuster, schwarze Baseballkappe. Er sei gekommen, um über Sargsjans Rücktritt zu sprechen. "Das ist Erpressung", antwortete der Regierungschef und verließ den Raum. Einen Tag später trat er zurück.
Alptraumszenario für Russland
In Russland dürften die Ereignisse in Armenien wie ein Alptraum wirken. Zum einem beobachtet Moskau seit Jahren mit Sorge Straßenproteste in Nachbarländern und sieht darin eine Einmischung des Westens und eine Bedrohung für sich. Zum anderen wiederholte sich dieses Szenario ausgerechnet in Armenien, einem besonders engen Verbündeten Russlands im postsowjetischen Raum.
"Der friedlicher Abgang eines Politikers, der noch jahrelang an der Macht bleiben wollte, ist eine Ohrfeige für Moskaus Außenpolitik", sagte der russische Journalist Konstantin von Eggert der DW. "Armenien ist ein enger Verbündete Russlands, vielleicht einer der wichtigsten." Die armenische Bevölkerung sei sehr russlandfreundlich. Moskau habe die Proteststimmung gegen Sargsjan möglicherweise falsch eingeschätzt, so Eggert.
Die ersten Reaktionen aus Moskau waren sehr vorsichtig. Zunächst sprach niemand von einem Staatsstreich, wie russische Politiker etwa die Ereignisse in der Ukraine gerne nennen. Der Parlamentsvorsitzende Wjatscheslaw Wolodin sagte in einer ersten Stellungnahme, der Rücktritt Sargsjans sei eine interne Angelegenheit Armeniens. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in der Staatsduma, Leonid Sluzkij, sagte gegenüber der Nachrichtenagentur "Interfax", Russland und Armenien würden strategische Verbündete bleiben.
Neuwahlen am Horizont?
Wie es in Armenien weiter geht, bleibt offen. Nino Lejava prophezeit lange Verhandlungen mit der Republikanischen Partei, da vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden sollen. Die jüngste Entwicklung sei jedenfalls "ein Schritt zur weiteren Demokratisierung des Landes."