Anis Amri: Die Wahrheit bleibt im Dunkeln
23. Juni 2021Die Namen der zwölf Ermordeten sind in die Treppenstufen vor der Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz in Berlin eingraviert – wie auf einem Grabstein. Elf seiner Opfer hatte Anis Amri am 19. Dezember 2016 an diesem Ort in den Tod gerissen, als er mit einem gestohlenen Lastwagen in den hier jährlich stattfindenden Weihnachtsmarkt mitten in Berlin raste. Zuvor hatte der als Flüchtling registrierte Tunesier den Fahrer des LKW ermordet. Mit den Hintergründen des schlimmsten islamistischen Terroranschlags in Deutschland befasste sich seit März 2018 ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Bundestages.
Drei Jahre und drei Monate lang befragten die Abgeordneten rund 180 Zeugen und Sachverständige. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse wurden auf fast 1,900 Seiten bilanziert und am Montag Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble überreicht. An diesem Donnerstag debattieren die Fraktionen über den Abschlussbericht – und werden dabei voraussichtlich zu unterschiedlichen Bewertungen kommen. Einigkeit besteht lediglich in der allgemeinen Einsicht, dass die Sicherheitsbehörden viele Fehler gemacht hätten. Zu dieser Erkenntnis war schon 2017 der Sonderermittler Bruno Jost gekommen. Welche Konsequenzen aus dem Versagen zu ziehen sind, darüber gehen die Meinungen aber weiterhin auseinander.
Die oppositionellen Freien Demokraten (FDP), Grüne und Linke verlangen durchgreifende Veränderungen vor allem beim Verfassungsschutz und im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) des Bundes und der 16 Bundesländer. Die Polizeibehörden hätten bei der Gefährdungsanalyse versagt, meint Martina Renner (Linke) angesichts der Tatsache, dass der spätere Attentäter längere Zeit überwacht wurde. Trotzdem verschwand Amri vom Radar, weil seine Gefährlichkeit völlig falsch eingeschätzt wurde.
"Man hat das Aufklärungsversprechen nicht eingelöst"
"In den Sicherheitsbehörden gibt es offensichtlich keine Idee, wie die dschihadistischen Netzwerke funktionieren", meint Martina Renner. Die These vom radikalisierten Einzeltäter hält sie für widerlegt. Irene Mihalic (Grüne) sieht das genauso. Es müsse eine bessere Überwachung von Gefährdern geben, fordert sie. Akten und Zeugenaussagen zeigten sehr deutlich, "dass Amri kein reiner Polizeifall war". Davon hatte der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen gesprochen und gemeint, dass der Fall in der federführenden Zuständigkeit der Polizeibehörden und nicht des Verfassungsschutzes gelegen hätte. Der Anschlag hätte nicht stattfinden müssen, "und das ist für mich die besondere Tragik", sagte Maaßen als Zeuge im Untersuchungsausschuss.
Persönliche Fehler oder Versäumnisse in der von ihm bis Oktober 2018 geführten Behörde habe es seines Erachtens nicht gegeben. Bei Benjamin Strasser (FDP) löst Maaßens Zeugenaussage noch heute Kopfschütteln aus. Für ihn steht fest: "Wir müssen Nachrichtendienste stärker an die parlamentarische Kandare nehmen." Wobei seine Kritik weit über Behörden wie den Verfassungsschutz und den Bundesnachrichtendienst (BND) hinausgeht. Sie zielt auf die Bundesregierung: "Man hat das Aufklärungsversprechen nicht eingelöst", sagt Strasser. Man wolle auch gar nicht aufklären, "weil es um ganz fundamentale, strukturelle Fragen geht".
Nachdenkliche Töne beim BND und BKA
Auch Irene Mihalic (Grüne) spricht der Bundesregierung den Willen und die Bereitschaft ab, die aus ihrer Sicht richtigen Konsequenzen zu ziehen. Man habe nach dem Anschlag in Berlin und einer Reihe weiterer Anschläge in Europa nicht darüber nachgedacht, "eine konsistente Anti-Terror-Strategie vorzulegen". Stattdessen sei über Burka-Verbote und Fußfesseln diskutiert worden. "Im Endeffekt hat die Bundesregierung das Ausländerrecht verschärft, um irgendwie bar jeder Analyse Handlungsfähigkeit zu demonstrieren."
Kritik am eigenen Handeln hat es im Untersuchungsausschuss aber durchaus gegeben. So räumte der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, erhebliche Mängel beim Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden in Deutschland und auf europäischer Ebene ein. BND-Chef Bruno Kahl bestätigte diesen Befund. Sein für das Ausland zuständiger Nachrichtendienst und das BKA hätten im Herbst 2016, also kurz vor dem Attentat, Anfragen eines marokkanischen Geheimdienstes erhalten, in denen von Amris islamistischen Aktivitäten die Rede gewesen sei. Diese Information nicht sofort an den Verfassungsschutz weitergeleitet zu haben, hält Kahl im Rückblick für einen Fehler.
"Es gibt keine Belege für weitere Täter"
Dass der Bundesregierung der politische Wille zu Reformen fehle, hält Fritz Felgentreu von den mitregierenden Sozialdemokraten für unzutreffend. Aber auch er verlangt von den Sicherheitsbehörden, Lehren aus ihrem Versagen zu ziehen, unter anderem eine engere Kooperation mit der Justiz und ausländischen Geheimdiensten. Anders als die Opposition geht die SPD aber davon aus, dass Anis Amri den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt im Alleingang begangen hat: "Es gibt keine Belege für weitere Täter."
Auch bei journalistischen Beobachtern bleiben am Ende viele Fragen offen. Der Extremismus-Experte Thomas Moser hat über seine Eindrücke aus dem Untersuchungsausschuss des Bundestages und weiterer Ausschüsse in Berlin und Nordrhein-Westfalen ein Buch geschrieben: "Der Amri-Komplex. Ein Terroranschlag, zwölf Tote und die Verstrickungen des Staates" erscheint Anfang Juli im Frankfurter Westend Verlag. Darin thematisiert der Autor auch die rechtsextremistische Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) von 2000 bis 2007 – und die zwielichtige Rolle des Verfassungsschutzes.
Auch damit beschäftigten sich über viele Jahre Parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Ihre Empfehlung an die Politik heute wie damals: eine Reform der Sicherheitsarchitektur. Allerdings hatten und haben die Parteien im Bundestag unterschiedliche Ansichten, wie die Statik verändert werden soll. Am weitesten geht die Linke: Sie fordert die Auflösung des Verfassungsschutzes.