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Angst und Wut in Clichy-sous-Bois

Anke Hagedorn, zurzeit Clichy-sous-Bois8. November 2005

Schon beinahe zwei Wochen dauern die Unruhen in Frankreich. Ihren Ausgangspunkt hatten sie in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-Bois. Dort ist die Stimmung noch immer aufgeheizt.

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Einwohner des Problemviertels vor einem ausgebrannten AutoBild: AP

Viele sind dem Aufruf ihres Bürgermeisters gefolgt und zum Rathausplatz in Clichy-sous-Bois gekommen. Das ehrwürdige Gebäude aus dem 19.Jahrhundert ist umringt von tristen grauweißen Hochhäusern. Unweit stehen die Ruinen einer ausgebrannten Sporthalle. Das Gebäude wurde von Jugendlichen angezündet und vollständig zerstört.

Nun will Bürgermeister Claude Dilain ein Zeichen setzen gegen die Ausschreitungen in seinem Bezirk und im ganzen Land: "Wir sind hier, um diese Form von Gewalt aufs Schärfste zu verurteilen, ebenso wie die anderen Gewaltakte in ganz Frankreich. Wir wollen unsere Wut gegen diese kriminelle und feige Tat ausdrücken. Die Sporthalle ist ein doppeltes Symbol: Es ist für die jungen Menschen da, damit sie Sport treiben können, und es war das erste Gymnasium, das mit dem Geld gebaut wurde, das wir schon so lange von der Regierung verlangt haben."

Schock und Enttäuschung

Dilain ist sichtlich geschockt und auch enttäuscht. Vor der Zerstörung der Sporthalle war es wieder friedlicher geworden in Clichy-sous-Bois, nun beherrscht die Vorstadt die Schlagzeilen. Die meisten Bewohner sind zur Versammlung gekommen, weil sie sehr beunruhigt sind, wie eine junge Frau, die gerade erst hierher gezogen ist. Sie traue sich kaum noch auf die Straße: "Ich bin erst seit den Sommerferien hier, ich komme aus der Provinz. An so etwas wie hier bin ich nicht gewöhnt. Ich versuche aber positiv zu bleiben." Ein Vater von vier Kindern sorgt sich um das Wohl seiner Familie. "Meine beiden Söhne gehen in dieselbe Schule, wie der eine Junge, der an dem Elektroschock gestorben ist. Man hätte schon längst etwas gegen die Zustände hier tun sollen. Man hat alles laufen lassen."

In Clichy-sous-Bois hatten die Unruhen, die sich mittlerweile auf das ganze Land ausgebreitet haben, am 27. Oktober 2005 ihren Anfang genommen. Zwei Jugendliche mauretanischer und tunesischer Herkunft starben an diesem Tag an einem Stromschlag, als sie sich angeblich vor der Polizei in einem Transformatorenhäuschen versteckten. Dieser Version des Geschehens hat Dominique de Villepin mittlerweile widersprochen. Es habe keine Verfolgung durch die Polizei gegeben. Das hätten genauere Untersuchungen des Falls bewiesen, erklärte der Premierminister in einem Fernsehinterview am Montag (7.11.).

Im Stich gelassen

Das wollen viele in Clichy-sous-Bois nicht so recht glauben, sie fühlen sich vom Staat im Stich gelassen und von der Polizei schikaniert. Und so beobachtet der 22-jährige Achmed die Veranstaltung vor dem Rathaus mit viel Skepsis: "Das sind doch nur Reden! Glauben Sie, das bringt hier was, das macht die beiden Jugendlichen wieder lebendig?"

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Jugendliche spielen vor einer Hochhaussiedlung FußballBild: AP

Er gehört wie die meisten Jugendlichen in den sozialen Brennpunkten der Banlieues, den Vorstädten, zu einer verlorenen Generation, die sich in Frankreich nie richtig zuhause gefühlt haben. "Wir bleiben immer Araber, was soll ich sagen", sagt Ahmed. Er ergänzt, dass er gegen das Abfackeln von Autos sei. Aber die Regierung habe bislang das Problem in den Banlieues weitgehend ignoriert, nun würde sie dafür die Rechnung präsentiert bekommen. "Sie hören nur, wenn es gewalttätig wird. Es gibt seit Jahren Proteste. Aber es müssen erst Autos brennen, damit etwas passiert."

Trostlose Wohnsiedlung

Clichy-sous-Bois ist eine von vielen trostlosen Vorstädten rund um die Hauptstadt Paris. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Lebensbedingungen sehr schwierig. Die meist kinderreichen Familien leben in heruntergekommenen, viel zu kleinen Mietwohnungen. Sie machen den Staat für ihre Situation verantwortlich. Der Tod der beiden Jugendlichen hat lang angestaute Aggressionen freigesetzt.

Unruhen in Frankreich Alltag in Clichy-sous-Bois
Einwohner von Clichy-sous-Bois, im Hintergrund ein FahrzeugwrackBild: AP

Auch bei der Versammlung vor dem Rathaus eskaliert die Situation schnell. Die Polizei provoziert uns, skandiert eine Gruppe von Jugendlichen erbost. Sie hätten die zwei Jugendlichen getötet. Eine ältere Frau versucht zu beschwichtigen. Gewalt sei doch keine Lösung, sagt sie, doch sie wird von den lautstarken Protesten der 14- bis 15-jährigen Mädchen übertönt. Sie lebe seit 1978 hier, erzählt sie, nachdem die Jugendlichen gegangen sind. Und sie hoffe, dass das Gymnasium das letzte Gebäude war, das hier gebrannt hat. Und dass auch die Jugendlichen begreifen, dass man die Zukunft aufbauen und nicht zerstören muss.