Kommentar: Europa hat bei Integration versagt
7. November 2005
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - es gibt nicht viel in Frankreich, das häufiger gefeiert wird als die jahrhundertealte Staatsräson. Nach der 11. Krawallnacht in Folge, nach brennenden Autos im ganzen Land, Übergriffen auf Behinderte und dem Beschuss von Polizisten mit Schrotkugeln ist dieses Credo nur noch Wunsch - die Wirklichkeit sieht anders aus.
Hat der französische Staat also versagt? Mehrere Milliarden Euro haben Regierungen jeglicher Couleur im Laufe der Jahrzehnte in Modernisierungspläne für Problembezirke investiert - bis heute aber ohne anhaltende Wirkung. Das sozialistische Vorgängerkabinett hat dialog-orientierte Nachbarschaftspolizeien aufgebaut, aber keinen der rechtsfreien Räume zurückerobern können. Der amtierende Innenminister Nicolas Sarkozy hat es mit Law-and-Order versucht. Doch nach elf Nächten harten Durchgreifens der Polizei brennen immer mehr Autos in immer mehr Regionen der Republik. Und der vom Premierminister angekündigte Notfallplan und die Mahnungen des Staatspräsidenten - das wissen auch die Randalierer - werden erneut wirkungslos verpuffen.
Jubel über Fußball-Mannschaft
Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass das republikanische Modell Frankreichs Erfolge feierte. Zum Beispiel vor sieben Jahren mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft der mehrheitlich aus Einwandererkindern bestehenden "Equipe Tricolore" im eigenen Land. Die Begeisterung der im Jubel vereinten ganzen Nation kannte damals keine Grenzen.
Jetzt hat sich der Wind gedreht: das republikanische Modell, das die Einwanderer auf dem Papier schnell zu Franzosen macht, habe versagt, heißt es unisono. Viele Argumente haben die Kritiker auf ihrer Seite: Der französische Pass garantiert weder Integration, noch sorgt er für einen Arbeitsplatz. Und dass im zentralistischen Frankreich um das wirtschaftliche Herz Paris herum Trabantenstädte hochgezogen wurden, erweist sich ebenfalls als verhängnisvoller Fehler. Der Zustand dieser Wohnghettos, die noch in den 60er Jahren als zukunftsweisend gefeiert wurden, ist so desolat, dass eine Sanierung die Vorstellungskraft strapaziert.
Sarkozy als Sündenbock
Derzeit beruhigt man sich damit, in Innenminister Sarkozy den Schuldigen gefunden zu haben. Mit seiner Ankündigung, die Problemvororte mit dem "Hochdruckreiniger" zu säubern, hat er viele provoziert. Als er die Randalierer jüngst als "Gesindel" bezeichnete, brachte Sarkozy auch ihm Wohlgesonnene zu Recht gegen sich auf. Dabei hat der Minister sehr wohl erkannt, dass die Staatsräson Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ihre Strahlkraft eingebüßt hat. Seit Jahren kämpft er gegen den Widerstand des Staatspräsidenten für eine positive Diskriminierung. Er will muslimische Einwanderer bevorzugt in den Staatsdienst aufnehmen und damit den Gleichheitsgrundsatz aushebeln.
An eine nüchterne Debatte dieser Pläne ist derzeit aber nicht zu denken. Frankreich sieht hilflos mit an, wie Jugendliche in einem blinden Rausch der Gewalt die Autos ihrer genauso armen Nachbarn in Brand setzen, die Grundschulen ihrer Geschwister verwüsten, den öffentlichen Nahverkehr attackieren und bei der Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlage die öffentliche Aufmerksamkeit genießen. Man mag diese Gewaltexzesse mit der Perspektivlosigkeit der Randalierer soziologisch erklären können, die Gesellschaft machen sie in ihrer Irrationalität und Endzeitstimmung ratlos. Sichtbar wird für viele lediglich die Unfähigkeit der Jugend, dem Elend zu entkommen und die Aufstiegsmöglichkeiten, die auch die französische Gesellschaft bietet, zu nutzen.
Bröckelnder Zusammenhalt der Gesellschaften
Wenn es stimmt, dass Frankreich mit seinen fünf Millionen Muslimen die Entwicklungen in Europa vorwegnimmt, bröckelt nicht nur dort der gesellschaftliche Zusammenhalt. Die Integration der rasch wachsenden Gemeinschaft muslimischer Einwanderer ist auch in anderen Ländern kaum erfolgreicher. Europa hat bislang keine Lösung für die Integration einer Gruppe gefunden, der schon aus demographischer Perspektive die Zukunft gehören dürfte, die aber - zumindest in Teilen - keine Vorstellung davon hat, wie diese Zukunft aussehen soll.