AfD, BSW und Deutschlands neue Parteienlandschaft
15. September 2024Viele Beobachter hatten es kommen sehen, der Schock saß trotzdem tief: Als am Abend des 1. September in den ostdeutschen Bundesländern Thüringen und Sachsen die Hochrechnungen für die Landtagswahlen auf den Bildschirmen auftauchten, war klar, dass die in Teilen rechtsextreme "Alternative für Deutschland" (AfD) der große Sieger war. In Thüringen wurde sie mit 32,8 Prozent die stärkste Partei, weit vor den alten Volksparteien CDU und SPD. Und in Sachsen kam die AfD auf 30,6 Prozent.
Auch das populistische, links-konservative "Bündnis Sahra Wagenknecht", erst zu Jahresanfang von früheren Mitgliedern der Partei "Die Linke" gegründet, kam aus dem Stand auf Ergebnisse von 11,8 Prozent in Sachsen und 15,8 Prozent in Thüringen. Sowohl AfD als auch BSW sind im Moment entscheidende politische Machtfaktoren in beiden Bundesländern. Ihre Haupthemen: Ablehnung einer offenen Asyl-und Migrationspolitik und die Abkehr von der starken Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen Russland.
Für das deutsche Parteiensystem stellen diese Entwicklungen eine Zäsur dar. Derartig massive Verschiebungen weg von den klassischen Parteien wie den Konservativen von der CDU und den Sozialdemokraten von der SPD hatte es zuvor in Deutschland nicht gegeben.
Parteienforscher: Neues Parteiensystem etabliert sich
Der Politikwissenschaftler Endre Borbáth beobachtet für das "Wissenschaftszentrum Berlin" (WZB) die Entwicklung deutscher Parteien. Er sagt im Gespräch mit der DW zu den Wahlergebnissen: "Es gibt dazu zwei Perspektiven. Eine sagt, dass neue Parteien wie die AfD oder das Bündnis Sarah Wagenknecht eine Reaktion auf aktuelle Ereignisse sind, wie etwa den Streit in der Regierungskoalition oder die Enttäuschung allgemein über die Volksparteien."
Weiterführender aber, so Endre Borbáth, sei eine zweite, grundlegende Erklärung: Die neuen Parteien repräsentierten eine systematische Transformation und gesellschaftliche Veränderung. "Der Wandel in der Gesellschaft durch neue Themen, wie zum Beispiel durch die Migration, die europäische Integration oder den Klimawandel sind der Grund für die Veränderung. Diese Themen werden von den Volksparteien nicht gut repräsentiert."
Deutschland wurde lange Jahre von drei Parteien regiert
Als Volksparteien bezeichnet man in Deutschland vor allem die Konservativen von CDU (und in Bayern von der dortigen Schwesterpartei CSU) sowie die Sozialdemokraten. Lange Jahrzehnte bestimmten sie zusammen mit der wirtschafts-liberalen FDP das politische Geschehen. Andere kleine Parteien wie etwa die nationalistische "Deutsche Partei" (DP) verschwanden in den Jahren zwischen 1950 und 1960 schnell in der Versenkung.
Selbst einige Wahlerfolge etwa der rechtsextremen "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) Ende der 1960er Jahre änderten nichts daran: Im Bundestag bestimmten CDU, CSU, SPD und FDP den Kurs den Landes. Bis heute waren und sind alle Kanzlerinnen oder Kanzler Mitglieder entweder der CDU oder der SPD.
Der Einzug der Grünen in den Bundestag
Eine erste grundlegende Veränderung war dann der Einzug der Grünen in den Bundestag 1983. Deren Themen Umwelt- und Klimaschutz, die Ablehnung der Kernenergie und auch die internationale Friedenspolitik waren von den etablierten Parteien lange nicht ernst genommen worden.
Nach der deutschen Einheit 1990 folgte dann der Einzug der PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) als Nachfolgepartei der SED in den Bundestag. Die heutige Linke hatte lange die Funktion, die vielen treuen SED-Anhänger mit in das geeinte demokratische Deutschland zu nehmen.
Die letzten Wahlen aber zeigen: Die Partei kämpft um ihre Existenz und hat viele Stammwähler aus dem Osten verloren. Endre Borbáth: "Früher war die Linkspartei sich einig über wirtschaftliche, über sozioökonomische Themen. Aber jetzt hat die Linkspartei Probleme, bei den neuen Themen ihre Position zu finden."
Fast 46 Prozent für Willy Brandt: Heute unerreichbar
Zeitgleich mit dem Erstarken nationalistischer Kräfte verlieren die großen alten Parteien an Zuspruch. Noch werden 14 von 16 Bundesländern von CDU, CSU oder SPD regiert, aber bei der letzten Bundestagswahl holte die SPD mit dem heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz als Kandidaten gerade noch einmal 25,7 Prozent der Stimmen. Das reichte dennoch, um zusammen mit den Grünen und der FDP eine Regierung zu bilden. Zum Vergleich: Ihr bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielte die SPD 1972 unter Bundeskanzler Willy Brandt mit 45,8 Prozent.
Von solch einem Zuspruch können beide großen Parteien heute nur noch träumen. Endre Borbáth sieht im Vertrauensverlust für die klassischen Regierungsparteien einen Trend, der über Deutschland hinausgeht: "Das gilt vor allem für die SPD, das sehen wir auch in anderen europäischen Ländern. Sozialdemokratische Parteien verlieren eher an grüne oder radikale linke Gruppierungen. Auf der anderen Seite ist die AfD eine große Gefahr für die CDU, denn viele AfD-Wähler haben früher entweder gar nicht gewählt oder eben die CDU."
Ratschlag: Mäßigend über Themen wie Asyl sprechen
Was können die etablierten Parteien nun tun, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen? Im Moment überbieten sich SPD und CDU mit Forderungen nach einer Verschärfung der Asyl-und Ausländerpolitik, auch das eine direkte Folge der Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen. Endre Borbáth findet das falsch: "Wenn die Bundesregierung mehr über diese Themen spricht, über radikale Maßnahmen, dann normalisiert das ein bisschen die AfD. Deswegen denke ich, ist es falsch, diese Themen zu stark zu thematisieren."
Soll heißen: Sorgen ernst nehmen, aber auch Grenzen aufzeigen und sich von der teilweise rechtsextremen AFD nicht Tempo und Ausmaß der Debatte bestimmen lassen: "Ich sage nicht: Die Volksparteien sollen nicht über diese Themen sprechen, aber sie sollen sich genau überlegen, wie sie darüber sprechen."
Trotz Vertrauenskrise: "Parteien bleiben wichtig"
Gleichzeitig wird es immer schwerer, in den Kommunen Menschen zu finden, die bereit sind, in einer aufgeheizten und populistischen Grundstimmung etwa Bürgermeisterämter zu übernehmen. Schwindet grundsätzlich die Rolle und Bedeutung der Parteien? Das Grundgesetz billigt den Parteien Verfassungsrang zu und sagt, dass sie an der politischen Willensbildung des Volkes teilnehmen.
Endre Borbáth findet es wichtig, dass es auch dabei bleibt: "Natürlich brauchen die Parteien immer Impulse von Experten, von gesellschaftlichen Bewegungen. Aber am Ende glaube ich: Eine repräsentative Demokratie funktioniert nicht ohne Parteien." Aber zurzeit befinden sich eigentlich alle etablierten Parteien des Landes in einer tiefen Vertrauenskrise.