Abstimmung mit den Füßen
29. September 2015Nach einem Bericht der Tageszeitung "Die Welt" befürchten deutsche Sicherheitsbehörden einen sprunghaften Anstieg der Flüchtlingszahlen aus Afghanistan. Demnach sollen monatlich etwa hundertausend Afghanen ihre Heimat verlassen. Die meisten gehen in den Iran oder nach Pakistan.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BamF) registriert seit einigen Monaten einen Zuwachs von afghanischen Asylsuchenden. Im Juni 2015 kamen demnach rund 8200 Flüchtlinge. Im Juli waren es knapp 10.500, im August bereits 13.100 Menschen.
Die Gründe für die Flucht aus Afghanistan gehen über den Terror der Taliban hinaus. Für Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network sind es vor allem politisch-militärische und wirtschaftliche Faktoren, die Millionen von Afghanen zur Flucht veranlassen.
Zu Wochenbeginn überrannten die radikal-islamischen Taliban große Teile der nordafghanischen Provinzhauptstadt Kundus. Damit zeigten sie einmal mehr, dass die Regierung in Kabul nach dem Abzug der westlichen Kampftruppen im Jahr 2014 die Sicherheit nicht gewährleisten kann.
Krieg, Gewalt und Zerstörung bestimmen schon seit mehr als drei Jahrzehnten den Alltag vieler Afghanen. Zwar ist die Lage laut Ruttig nicht überall gleich schlecht, aber nirgendwo im Land sei es wirklich sicher. "Das, was bei uns immer als Alternative der Inlandsflucht dargestellt wird, das gibt es in Afghanistan nicht wirklich", sagt er im DW-Gespräch.
Wer Geld hat, geht
Eng verbunden mit der angespannten Sicherheitslage ist die politische Krise. Die seit einem Jahr amtierende Regierung hat Ruttig zufolge die Erwartungen enttäuscht. "Die Wirtschaft ist nicht in Gang gekommen", führt der Afghanistan-Experte aus. Dafür seien neben den Kämpfen auch die Korruption und frühere Zerstörungen verantwortlich. Die ohnehin schon hohe Arbeitslosigkeit steige weiter.
Viele Paschtunen, Tadschiken, Hasara und Angehörige anderer Volksgruppen glauben nicht mehr an eine Zukunft im Land. "Ich habe keinen Menschen gefunden, der für sich in Afghanistan eine Perspektive sieht", sagt Matin Baraki, der an der Universität Marburg internationale Politik lehrt. Sogar hochrangige Militärs und Politiker flöhen. Wer Geld für die kostspielige Flucht habe, mache sich auf den Weg.
Insgesamt 2,6 Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan zählte die UN-Flüchtlingshilfe UNHCR im vergangenen Jahr. Die Auswanderung so vieler Afghanen zieht das Land immer tiefer in die Krise. Fachkräfte für einen Aufschwung fehlen.
Die Regierung in Kabul versucht zwar, mit einer Kampagne gegenzusteuern. Unter dem Hashtag #afghanistanneedsyou (Afghanistan braucht dich) wirbt auch eine private Initiative darum, der Heimat nicht den Rücken zu kehren. Doch der Trend scheint umgebrochen.
Schöne Bilder, schlechtes Leben
Hinzu kommt laut Baraki das überzogen positive Bild, dass Afghanen in Europa von sich vermitteln. "Sie stellen sich auf einen Parkplatz vor einen Mercedes, machen Fotos von sich, schicken sie nach Hause und sagen: Hier, das ist mein Auto", erzählt Baraki. So etwas ziehe die Leute an.
Die Wirklichkeit sieht häufig anders aus. Viele Flüchtlinge haben keine Arbeit. "Wenn ich nach Afghanistan gehe und den Angehörigen erzähle, wie die Leute hier tatsächlich arbeiten, dann glauben sie mir nicht," berichtet der Marburger Dozent.
Er weiß von Ärzten, die in Afghanistan eine Praxis hatten, aber in Deutschland als Taxifahrer arbeiten. Er habe auch einen Staatssekretär kennen gelernt, der nun bei McDonald's arbeite. Doch diese Umstände würden die Emigranten verschweigen, wenn sie in ihre Heimat reisten. Stattdessen nehmen sie Baraki zufolge 2000 oder 3000 Dollar mit, werfen mit Geld um sich und verdrehen den Menschen den Kopf.
Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge wurden im August 43 Prozent der Asylbewerber als schutzbedürftig eingestuft – bei Flüchtlingen aus Syrien waren die Quote doppelt so hoch. Das bedeute aber nicht, dass die anderen 57 Prozent automatisch abgeschoben würden, ergänzt eine BamF-Sprecherin.
Vernetzte Afghanen
Welche Aussichten Afghanen in Deutschland oder anderen EU-Staaten haben, erfahren die Daheimgebliebenen rasend schnell. Baraki erzählt von zwei jungen Afghanen, die er beim Skypen beobachtete. "Die wussten alles, was in Europa passiert", erinnert er sich. Die Äußerungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Aufnahmebereitschaft Deutschlands hätten Afghanistan in Sekundenschnelle erreicht.
Nach Ansicht von Experte Ruttig gehören solche Berichte über Deutschland jedoch nicht zu den wichtigsten Beweggründen für eine Flucht. Angesichts von materieller Not und anhaltender Gewalt sei ein positives Bild ferner Ziele zweitrangig. "Ich glaube, dass der Faktor 'Nichts wie weg hier' stärker ist, als der Faktor 'Ich will nach Deutschland'", sagt Ruttig.