Abschied von Gestern
2. Juli 2010Ein Mädchen stiehlt einen wärmenden Pullover, es ist Winter, sie will überleben. Dafür kommt sie ins Gefängnis, später will sie ein neues Leben beginnen, scheitert erneut, landet wieder im Knast. Das Mädchen kommt aus Ostdeutschland, lebt aber im Westen, einsam, allein. Ihre Eltern wurden von den Nazis ermordet. Dem Mädchen will es nicht gelingen, Fuß zu fassen. Nicht im Osten, nicht im Westen, nirgendwo. Ein deutsches Schicksal, eine wahre Begebenheit, vielleicht sogar Alltag? "Abschied von Gestern" heißt dieser beklemmende Spielfilm, mit dem Regisseur Alexander Kluge 1966 mit einem Schlag bekannt wurde.
Der kluge Gründervater des Neuen Deutschen Films
Der Filmemacher Alexander Kluge ist kein Regisseur für die Massen, seine oft rätselhaften Filme bedienen ein intellektuelles Publikum, ohne freilich elitär zu wirken. Kluge ist einer der Gründerväter des Neuen Deutschen Films, einer Bewegung, die 1962 mit dem "Oberhausener Manifest" und dem Willen junger engagierter Regisseure begann, endlich andere Filme, und - Zitat - "nicht immer diesen glücksseligen Heimatkitsch" zu produzieren. Seit dieser Zeit dreht der promovierte Jurist Kluge kleine Perlen des Dokumentarfilms, interpretiert vorhandenes Filmmaterial neu, versieht es mit kuriosen Zwischentiteln und kehrt auch immer wieder zum Spielfilm zurück. Eines seiner berühmtesten Werke mit einer 1968 noch blutjungen Hannelore Hoger: "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos".
Eine Zirkusdirektorin pflegt einerseits die hohe Kunst der Artistik, strebt aber andererseits nach unbedingter Natürlichkeit. Ein Konflikt zwischen Schein und Sein, an dem die Frau vom Zirkus scheitert. Verschmitzt und verklausuliert - wie immer bei Kluge, so auch hier bei den ratlosen Artisten in der Zirkuskuppel, verbirgt sich gesellschaftliche Kritik hinter einer sonderbaren und rätselhaften Geschichte.
Intellektuelle Vexierspiele
"Die Macht der Gefühle", "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit", "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod": Bereits Alexander Kluges Filmtitel scheinen griffig wie Sprüche, entpuppen sich dann aber als intellektuelle Vexierspiele eines Mannes, der auch über sich selbst schmunzeln kann. Denn oft kommen Kluges Filme auch ungeheuer gewichtig, schlau und pompös daher, um sich im nächsten Moment als augenzwinkernde clowneske Spielereien eines klugen Herrn Kluge aufzulösen. Ein deutscher Filmemacher der ganz besonderen Art, dessen Filme sich erst erschließen, wenn man sich unvoreingenommen auf sie einlässt.
Autor: Robert Bales
Redaktion: Jochen Kürten