80 Prozent der Menschheit fordern mehr Einsatz fürs Klima
21. Juni 2024Die Antworten sind so eindeutig, dass man selbst bei den Vereinten Nationen (UN) überrascht war: In einer großen Befragung mit Teilnehmenden aus allen Weltregionen fordern 86 Prozent, dass Länder und Regierungen ihre Konflikte beiseite legen müssten, um gemeinsam die weltweite Bedrohung durch den Klimawandel zu verringern. "Ein so eindeutiges Signal hatte, glaube ich, keiner erwartet", sagte der Chef des UN-Entwicklungsprogramms UNDP, Achim Steiner, dem deutschen öffentlich-rechtlichen Senderverbund ARD.
Das UNDP hatte in Zusammenarbeit mit der Universität Oxford 75.000 repräsentativ ausgewählte Menschen in 77 Ländern befragt. Darunter waren auch gut 9300 Personen ohne formelle Schulbildung. Bei wiederum gut 1200 davon handelte es sich um Frauen über 60 - laut UNDP "eine der am schwersten für Umfragen zu gewinnende Gruppe". Die Erkenntnisse quer durch alle Bildungs- und Einkommensschichten sind überall auf der Welt eindeutig: 80 Prozent der Menschheit wünschen sich von ihren Regierungen mehr Einsatz zur Bekämpfung der Klimakrise.
Mehr Einsatz fordern vor allem Menschen in ärmeren Ländern
Besonders deutlich wird diese Forderung in ärmeren Ländern, die häufig in besonderer Weise vom Klimawandel bedroht sind. Die eindeutigsten Werte gibt die UNDP-Studie für fünf Länder in Subsahara-Afrika an: In Äthiopien, Tansania und Benin fordern 97 Prozent mehr politischen Einsatz fürs Klima; in den Sahel-Staaten Niger und Burkina Faso sind es 96 beziehungsweise 95 Prozent.
Stephen Fisher war für die Universität Oxford an dem Bericht beteiligt. In den am wenigsten entwickelten Ländern seien die Menschen "stärker besorgt über den Klimawandel, sind stärker davon betroffen und fordern von ihren Regierungen und den reichen Ländern mehr Taten gegen den Klimawandel", sagt Fisher zur DW.
Aber auch die Bewohner der Staaten mit den größten CO2-Emissionen, die also momentan besonders viel zum Klimawandel beitragen, sprechen sich größtenteils dafür aus: In China fordern 73 Prozent mehr politische Entschlossenheit, in den USA 66 Prozent, in Indien 73 Prozent. Das UNDP weist diesen drei Staaten die momentan größte Verantwortung zu - neben CO2-Emissionen ist dabei auch die veränderte Flächennutzung berücksichtigt. Damit gemeint ist beispielsweise die Abholzung von CO2-speichernden Wäldern oder die Trockenlegung von Mooren, die dann CO2 ausstoßen.
Dem werden Regierungen, Konzerne und Privatleute bislang nicht gerecht: Im vergangenen Jahr wurden laut Internationaler Energie-Agentur weltweit 37,4 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre abgegeben - ein Allzeit-Höchstwert und noch einmal 1,1 Prozent mehr als 2022. Berücksichtigt man auch Flächennutzung, liegt der Wert sogar bei 40,9 Milliarden Tonnen CO2. Immerhin: In Europa und Nordamerika geht der CO2-Ausstoß bereits zurück; diese Fortschritte werden jedoch von Steigerungen etwa in Indien und China zunichte gemacht.
Wie schnell kann der Verzicht auf Öl und Gas gelingen?
Dabei gab es auch teils deutliche Mehrheiten, dass die Abkehr von fossilen Energieträgern schnell vonstatten gehen muss: Dem stimmten insgesamt 72 Prozent der Befragten zu. Das gilt auch für Länder, die selbst vom Geschäft mit Kohle, Öl und Gas profitieren: Im ölreichen Nigeria sowie der Kohle fördernden Türkei wünschten sich je 89 Prozent eine rasche Transformation. Im größten Kohleförderland China waren es 80 Prozent, in Saudi-Arabien 75 Prozent; in den USA, die weltweit die größten Mengen Öl und Gas produzieren, 54 Prozent. Schlusslicht ist der große Gasproduzent Russland, wo nur 16 Prozent eine schnelle Abkehr fordern.
Doch in den weltweiten Fördermengen ist diese Abkehr noch nicht zu erkennen: Nach dem Corona-bedingten Rückgang der Ölproduktion 2020 stiegen die Fördermengen wieder an. Beim Gas endete der jahrelange Zuwachs zwar 2021; aber eine deutliche Trendwende ist nicht in Sicht. Bei der Kohle zeigt der weltweite Trend sogar nach oben, was maßgeblich auch mit dem Energiehunger der chinesischen Wirtschaft zusammenhängt: China ist inzwischen für mehr als 50 Prozent des weltweiten Kohleverbrauchs verantwortlich.
Angst vor dem ungebremsten Klimawandel
Was getan werden müsste um die Klimakatastrophe abzumildern und was tatsächlich weltweit getan wird, steht also in einem krassen Gegensatz zueinander. Das bereitet vielen Menschen Sorge - in der Psychologie ist der Begriff Klima-Angst (climate anxiety) inzwischen ein feststehender Ausdruck. Das Thema findet sich auch in der UNDP-Befragung wieder: Im weltweiten Schnitt gaben 53 Prozent an, dass ihre Besorgnis sich im Laufe der vergangenen zwölf Monate verstärkt hat.
Seit Juni 2023 war jeder einzelne Monat global betrachtet so heiß wie nie zuvor. Schon ein ganzes Jahr lang ist die Erde über 1,5 Grad wärmer als vor dem industriellen Zeitalter - festigt sich dieser Wert über längeren Zeitraum, ist diese Zielmarke aus dem Pariser Abkommen von 2015 verfehlt.
Klimawandel nimmt Einfluss auf Lebensentscheidungen
Am stärksten (80 Prozent der Befragten) hat die Sorge laut UNDP auf den Fidschi-Inseln zugenommen - der Inselstaat ist akut vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht. Fast ganz hinten liegt Deutschland (40 Prozent). Noch im letzten Erhebungszeitraum 2021 trieben Klima-Sorgen junge Menschen stärker um als ältere - das deckt sich auch mit der Altersgruppe vieler Klima-Aktivisten weltweit. Doch dem aktuellen Bericht zufolge gaben vor allem die Befragten über 35 und über 60 Jahre an, ihre Sorgen hätten sich verstärkt - möglicherweise schließt sich da also eine Lücke.
Der Klimawandel ist für viele Menschen inzwischen spürbar in ihrer Lebensrealität angekommen - etwa in Form von Extremwetterereignissen, deren Intensität und Häufigkeit dadurch zunehmen. Das hat bei der Mehrheit der Befragten auch Einfluss auf Lebensentscheidungen. Besonders in Afghanistan (73 Prozent), Madagaskar (72 Prozent) und Niger (71 Prozent) verändert der Klimawandel bereits massiv, wo die Menschen wohnen oder arbeiten oder was sie sich leisten können.