China: Klimaheld und Klimaschurke
4. Dezember 2023Als Taifun Haikui Anfang September über Teile Ostasiens fegte, drehten sich die gigantischen 123 Meter (404 Fuß) langen Rotorblätter einer Windturbine vor der Küste von Fujian, China, besonders schnell. Sie erzeugten genug Elektrizität, um etwa 170.000 Haushalte zu versorgen - die größte Menge Energie, die je eine Turbine an einem einzigen Tag erzeugt hat.
Das Windrad des Herstellers Goldwind war für wenige Wochen sogar das größte weltweit, bis es von einer weiteren in China errichteten Windanlage übertroffen wurde. Das Land mit der zweitgrößten Einwohnerzahl nach Indien beherbergt noch weitere Riesenprojekte im Bereich erneuerbarer Energien, darunter einige der größten Solaranlagen der Welt.
Doch nicht nur die Größe von Chinas grünen Energie-Projekten beeindruckt, auch der schnelle Zuwachs an Kapazitäten sei enorm, sagt Yan Qin, leitende Analystin beim Finanzmarkt-Datenanbieter Refinitiv. Im Jahr 2022 wurden laut der Internationalen Energieagentur fast die Hälfte der weltweiten neuen Kapazitäten für Solar-, Wind- und Wasserkraft in China gebaut. "Chinas Energiesektor bewegt sich sehr schnell ... sein Wachstum im Bereich erneuerbarer Energien ist spektakulär", so Yan Qin, die auch Forschungsmitarbeiterin am Oxford Institut für Energiestudien ist.
Trotz seiner globalen Führung bei den erneuerbaren Energien stößt China weltweit die meisten klimaschädliche Treibhausgase aus, größtenteils durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe. Etwa 81 Prozent von Chinas Primärenergie stammen aus Kohle, Öl oder Gas. Die Emissionen des Landes sind von etwa 800 Millionen Tonnen jährlich im Jahr 1960 auf 11,5 Milliarden Tonnen im Jahr 2021 gestiegen.
Wenn sich nun also die führenden Politiker und Experten zur COP28-UN-Klimakonferenz in Dubai versammeln, um ehrgeizigere Klimaziele zu vereinbaren und die schlimmsten Auswirkungen der globalen Erwärmung abzuwenden, kommt es dann nicht vor allem auf China an?
China: mehr Treibhausgase, aber weniger pro-Kopf Emissionen als die USA
Derzeit stößt das Land der Mitte zwar mehr CO2 aus als jedes andere auf der Welt, doch historisch gesehen sind die USA der größte Emittent. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind für 17 Prozent der Emissionen verantwortlich, die seit 1850 zur Klimakrise beigetragen haben, China für zwölf Prozent. Auch die Pro-Kopf-Emissionen sind in China mit 8,73 Tonnen im Jahr 2021 im Vergleich zu 14,24 Tonnen in den USA deutlich niedriger.
China plant zudem nach eigenen Angaben eine massive Expansion der erneuerbaren Energien, um Öl, Kohle und Gas zu ersetzten. US-Präsident Joe Biden und der chinesische Staatschef Xi Jinping bekräftigten bei einem Treffen am Rande des APEC-Gipfels im November ihre Absicht, die weltweite Kapazität der Erneuerbaren bis 2030 zu verdreifachen.
80 Prozent der Solarmodule weltweit kommen aus China
China hat einige seiner Ziele im Bereich grüner Energie bereits übertroffen. Solar- und Windkraft machen schon jetzt über die Hälfte der Gesamtkapazität des Landes aus - ein Ziel, das erst für 2025 geplant war. Außerdem plant das Land laut einem Bericht der in San Francisco ansässigen Nichtregierungsorganisation Global Energy Monitor, seine Solar- und Windkraftkapazität bis 2025 zu verdoppeln. China liegt damit fünf Jahre vor seinem eigenen Zeitplan.
Gezielte staatliche Maßnahmen seien der Grund, warum China seine saubere Energieinfrastruktur so schnell aufbauen könne, sagt Li Shuo, der künftige Direktor des China Klima Hubs am US-Think Tank "Asia Society Policy Institute". Andere Länder könnten von Chinas Erfahrungen beim Ausbau grüner Energien lernen.
So produziert Chinas aufstrebender Solarsektor bis zu 80 Prozent aller weltweit hergestellten Solarmodule. Dies hat die Kosten weltweit erheblich gesenkt und Solarenergie in vielen Ländern zur günstigsten erneuerbaren Energiequelle gemacht. "China ist der größte Investitions- und auch Einsatzort für einige der wichtigsten sauberen Technologien der Welt", so Li.
Kohle in China weiter auf dem Vormarsch - trotz Absicht den Verbrauch einzudämmen
Trotz des Aufschwungs von sauberer Energie sei China immer noch "stark süchtig" nach umweltbelastenden fossilen Brennstoffen, die seine energieintensive Wirtschaft antreiben, sagt Li. Mit Kohle wird laut Regierungsdaten rund 60 Prozent der Energie in China erzeugt. "Wir verbrennen jährlich tatsächlich mehr als die Hälfte des weltweiten Kohleverbrauchs", erklärt Li. "Das Land kann nur ein Klimavorreiter sein, wenn es Wege findet, seine Sucht nach Kohle zu überwinden."
Trotz des Ziels, die Kohlenstoffemissionen bis 2030 zu stabilisieren, hat das Land zahlreiche neue Kohlekraftwerke genehmigt, teils bis zu zwei Anlagen pro Woche im Jahr 2022 und der ersten Hälfte des Jahres 2023. Chinesische Beamte rechtfertigten den Ausbau der Kohle als Maßnahme zur Sicherung der Energieversorgung angesichts der globalen Energiekrise. Das Land verfügt über große eigene Kohlevorräte.
China hatte zuvor versprochen, den Kohleverbrauch ab 2026 "abzubauen". Aber vor wenigen Monaten sagte Chinas höchstrangiger Klimabeauftragter Xie Zhenhua, ein vollständiger Ausstieg aus fossilen Brennstoffen sei unrealistisch, wenn das Land das Wirtschaftswachstum aufrechterhalten und eine Backup-Stromversorgung sicherstellen müsse für Zeiten, in denen der Wind nicht wehe und die Sonne nicht scheine.
"China braucht Kohle für die grüne Energiewende"
Paradoxerweise benötige China Kohle für seine grüne Energiewende, sagt auch Lin Boqiang, Professor am China Institut für Energiepolitik an der Universität Xiamen. "Ohne Kohle kann erneuerbare Energie einfach nicht schnell vorankommen, weil man keine stabile Stromversorgung für die Energiewende bereitstellen kann." In der ersten Hälfte des Jahres 2023 wurden demnach neue Kohlekraftwerke mit insgesamt 52 Gigawatt genehmigt, gleichzeitig wurden in 2023 rund 129 Gigawatt Solarkapazität zugebaut.
Li Shuo vom Klima-Hub sagt, die Umweltkosten der Kohleverbrennung seien "enorm", und anstelle neuer Kraftwerke könne China anderswo Energieeinsparungen erzielen. "All diese Kosten sind nicht unbedingt in Chinas Energiesektor eingerechnet. Wir sollten auch die Energieeffizienz des Landes nutzen."
Neue Kohlekraftwerke unvereinbar mit Klimazielen
Laut Carbon Brief, einer in Großbritannien ansässigen Website für Klimaberichterstattung, dürften die CO2-Emissionen Chinas im Jahr 2024 aufgrund des "rekordverdächtigen Wachstums bei der Installation neuer kohlenstoffarmer Energiequellen" sinken. Die Emissionen könnten noch weiter sinken, "wenn Kohleinteressen den Ausbau erneuerbarer Energien nicht zu stoppen versuchten".
"Das erste was wir tun müssen, ist, dem Bau neuer Kohlekraftwerke nicht zuzustimmen. Und das zweite ist, Wege zu finden, unseren Kohleverbrauch allmählich zu reduzieren", sagt Li. "Ich hoffe, es wird in den nächsten Jahren mehr Fortschritte geben, und wir werden endlich den Höhepunkt der Emissionen Chinas sehen."
Die Genehmigung weiterer Kohlekraftwerke könnte ein Hindernis für das Ziel der chinesischen Regierung werden, bis 2060 klimaneutral zu sein und 80 Prozent nicht-fossiler Energiequellen in ihre Energiemischung zu erreichen, erläutert Li.
Aber Lin Boqiang ist zuversichtlich, dass China sich in die richtige Richtung bewegt: "Wenn Sie sich die Zunahme erneuerbarer Energien ansehen, ist alles auf Kurs. Auch wenn Sie das Gesamtwachstum als etwas langsam empfinden, China ist ein Entwicklungsland. Der Energiebedarf steigt immer noch."
Und für Yan Qin hat sich das Land durch niedrige Erwartungen selbst zum Erfolg verholfen: "Diese [Ziele] sind nicht besonders ehrgeizig. Das entspricht dem, was China typischerweise immer getan hat - die Messlatte nicht zu hoch zu legen und dann das Ziel zu übertreffen."