Bröckelt der Unantastbare?
9. August 2019Wladimir Putin war ein politischer Niemand, als er vor 20 Jahren, am 9. August 1999, in die erste Reihe der russischen Politik aufrückte und als Boris Jelzins Wunschkandidat Ministerpräsident wurde. Keine fünf Monate später folgte er Jelzin im Amt des Staatspräsidenten der Russischen Föderation. Seitdem regiert Putin Russland ohne Unterbrechung - zwei Amtszeiten als Präsident, zwischendurch eine, in der er wieder Ministerpräsident war, und seit 2012 erneut als Präsident, inzwischen in seiner vierten Amtsperiode.
Putin galt lange als politisch unangreifbar - auch in der Meinung der Öffentlichkeit. Eine russische Redensart, wonach der Zar gut sei, aber der Adel nicht, hält oft als Erklärung für den Umstand her, warum die Zustimmungswerte für den Präsidenten lange Zeit besser waren als die für seine Regierung.
Sogar Putin selbst hat versucht, den Mythos der Unfehlbarkeit zu entkräften: "Da gibt es diese ewige Vorstellung der Russen, dass der Zar gut sei, und nur die Bojaren (Angehörige des Adels im Zarenreich - d.Red.) seien schlecht. Aber ich kann Ihnen sagen: Wenn (im Land) etwas nicht gut läuft, dann ist es die Schuld von allen", sagte er, als es bei seiner jährlichen Pressekonferenz im Dezember 2018 um Lohnungleichheit in Russland ging. Auch bei seiner traditionellen TV-Sendung, in der er Zuschauerfragen beantwortet, betonte er im Juni diesen Jahres seine persönliche Verantwortung für innenpolitische Probleme in Russland.
Umfragen zeigen in der Tat, dass seine Popularität nicht mehr unangefochten ist. Zum Ende seiner zweiten Amtszeit als Präsident, im Jahr 2008, lagen die Zustimmungswerte für das Amt des Präsidenten 35 Prozentpunkte über denen der Regierung. Dieser Vorsprung ist inzwischen nach Zahlen des russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM auf 23 Prozentpunkte geschrumpft. Der Anteil der Russen, die Putin vertrauen, ist auf einen Wert knapp über 30 Prozent gesunken - der niedrigste Wert seit 2006, als WZIOM diese Frage zum ersten Mal stellte.
Russland als Supermacht
Putins Popularität wurde oft in Zusammenhang mit der Wiederherstellung des russischen Nationalstolzes gesehen. Als Putin an die Macht kam, endete ein Jahrzehnt, das viele Russen verstört zurückgelassen hatte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte wirtschaftliches Chaos und gesellschaftliche Umwälzungen zur Folge; viele Russen hatten das Gefühl, ihre nationale Identität verloren zu haben.
Lewv Gudkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes Lewada-Zentrum meint, Putins Ziel sei gewesen, "Russlands Image als Supermacht, zumindest aus der Sicht der Russen, sowie die Autorität wieder herzustellen, die die Sowjetunion einst hatte". Putins Zustimmungswerte hatten 2014, nach der Annexion der Krim, ihr Allzeithoch erreicht. Dieser Schachzug Putins war extrem populär in Russland, während der Westen ihn verurteilte.
Verantwortlich waren immer die anderen
Eine Veränderung der politischen Atmosphäre in Russland könnte jedoch bedeutet, dass sich Putin seiner innenpolitischen Verantwortung nicht mehr dadurch entziehen kann, dass er sich auf die Außenpolitik konzentriert. Eine Zeitlang, so Lew Gudkow, "hat der Mechanismus funktioniert, mit dem Putin die Verantwortung für die innenpolitische Lage auf andere schob. Aber als Putin das Gesetz zur Rentenreform unterschrieb, übernahm er damit auch die Verantwortung für die Lage im Inneren".
Die Duma hatte die Rentenreform im September 2018 verabschiedet, und Putin hatte das Gesetz Anfang Oktober unterzeichnet. Die Folge waren Proteste im ganzen Land.
In den vergangenen Monaten zeigte sich, dass die Öffentlichkeit auch mit anderen Dingen unzufrieden war. Es gab Proteste gegen die Einrichtung von Mülldeponien im Norden Russlands und in der Umgebung von Moskau, und es gab Vorwürfe des Wahlbetrugs bei Regionalwahlen im fernen Osten des Landes. In den letzten Wochen waren Russen auf die Straße gegangen, um die Zulassung unabhängiger Kandidaten für die bevorstehenden Wahlen zur Moskauer Stadtverwaltung zu fordern.
Wachsende Unzufriedenheit
Gudkow sieht mehrere Gründe für Putins sinkende Popularität. Wirtschaftlicher Stillstand und fallende Löhne sind das eine, sagt er. "Der zweite Faktor ist ein zunehmendes Gefühl von Ungerechtigkeit und Korruption, das Gefühl, dass die oberen Ränge der Politik das Volk ausplündern."
"Die Russen haben das Gefühl eines moralischen Verfalls der Regierung", erklärt Gudkow. "Und die Hoffnung lässt nach, dass Putin gegen die Korruption vorgeht und sich verstärkt um eine Sozialpolitik kümmert, die die Bedürfnisse des Volkes befriedigt."
Der Politikwissenschaftler Alexej Kurtow glaubt, dass die Tatsache, dass Putin zunehmend für diese "Spannungspunkte" in der russischen Gesellschaft verantwortlich gemacht wird, zumindest zum Teil mit einer verstärkten Berichterstattung in russischen Medien zu tun hat. Früher konnte "Putin beschließen, auf bestimmte Probleme nicht einzugehen oder die Verantwortung dafür einem anderen zuzuweisen", sagt er. "Jetzt gibt es reichlich ungelöste Probleme und keinen, der für dafür verantwortlich gemacht werden kann, also wird die Verantwortung für diese Probleme automatisch auf Putin geschoben."
Immer noch die Nummer Eins
Waleri Fjodorow, der Chef des staatlichen Meinungsforschungsinstitutes WZIOM, glaubt auch, dass der Hauptgrund für die allgemeine Unzufriedenheit wirtschaftlicher Art ist, und verweist auf das Gesundheitssystem und Forderungen nach Lohnerhöhungen. Er sagte aber, dass der Vertrauensverlust für Putin nicht wesentlich ist. Er glaubt auch, dass die traditionelle russischen Unterscheidung zwischen Präsident und Regierung eine Vereinfachung ist. "Putin ist der Politiker Nummer Eins", sagt er. "Putin trägt die Verantwortung für das Land. Das weiß jeder."
Fjodorow weist darauf hin, dass Putins Politik eine sozialwirtschaftliche Wende genommen hat. Seine "Nationalen Ziele", kurz nach Beginn der aktuellen Amtszeit im Mai 2018 unterzeichnet, sehen vor, den Lebensstandard zu verbessern und der stagnierenden russischen Wirtschaft neues Leben einzuhauchen.
"Die Menschen sind Putin dankbar, sie respektieren Putin und setzen ihre Hoffnung auf Putin", sagt er. "Ich rede von der Mehrheit. Natürlich gibt es die, die mit ihm unzufrieden sind, die eine Alternative wollen. Aber das sind nicht viele."