100 Jahre jüdisches Leben in der Ukraine
21. November 2022Die Männer auf dem Schwarz-Weiß-Foto aus dem frühen 20. Jahrhundert sind elegant gekleidet, ebenso die einzige Frau im Bild. Auch eine offene Pferdekutsche gehört zum Motiv, das der Fotograf vor rund 100 Jahren einfing. Es zeigt eine jüdische Familie vor ihrem Haus in der Kleinstadt Boryslaw. Die idyllisch anmutende Szenerie in der Ausstellung "Voices. Ein Mosaik ukrainisch-jüdischen Lebens" im Jüdischen Museum Augsburg fällt gleich am Anfang des Rundgangs ins Auge.
Sie ist der Einstieg in die Geschichte der ukrainischen Jüdinnen und Juden von den 1920er-Jahren bis in die Gegenwart. Erzählt wird vom Alltag im Schtetl (das jiddische Wort für Städtchen; Siedlungen in Osteuropa mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil, Anm. d. Red.) vor dem Zweiten Weltkrieg, vom unsäglichen Leid des Holocaust, vom Kampf um eine angemessene Erinnerungskultur vor dem Hintergrund der antisemitischen Politik der Sowjetunion und von der Wiedergeburt jüdischen Lebens in der unabhängigen Ukraine. Auch die jüdische Emigration ins Ausland in den 1990er- und 2000er-Jahren wird thematisiert.
Ukrainische Kuratoren
Die Idee, unterschiedliche Stimmen eines ganzen Jahrhunderts zu Wort kommen zu lassen, stammt von der Direktorin des Jüdischen Museums in Augsburg, Carmen Reichert. Das Konzept zur Schau war Anfang 2022 fertig, aber als Russland die Ukraine überfiel, war klar, dass es noch mal überabeitet werden musste. Die Macher wollten nicht das Leben der ukrainischen Juden beleuchten, ohne gleichzeitig die aktuellen Ereignisse im Land einzubeziehen.
Man holte zwei Fachleute an Bord, die nicht nur mit der ukrainischen Realität, sondern auch mit der Geschichte der jüdischen Gemeinden in der Ukraine vertraut sind: Die Historikerin Daria Reznyk und ihr Kollege Andrii Shestaliuk hatten beide zuvor im Gedenkmuseum totalitärer Regime "Territorium des Terrors" im westukrainischen Lwiw gearbeitet. Jetzt kuratieren sie gemeinsam die Ausstellung in Augsburg.
"Ursprünglich wollte das Jüdische Museum Exponate aus der Ukraine zeigen, die das Leben jüdischer Gemeinden in verschiedenen Epochen der Geschichte veranschaulichen", sagt Shestaliuk. Wegen des Krieges konnten sie aber nicht nach Deutschland gebracht werden. Deshalb setzt das Museum auf mündliche Überlieferungen von Zeitzeugen. Sie berichten über Ereignisse, die das Leben der ukrainischen Juden stark beeinflusst haben.
Partner der Ausstellung sind die 2021 in Lwiw gegründete Organisation "After Silence" und das dortige Medienachiv sowie das Holocaust‑Gedenkzentrum Babyn Jar in Kiew. Sie trugen Videoaufnahmen zusammen, die später von den Kuratoren mit Interviews ergänzt wurden. Es sind Gespräche mit ukrainischen Juden, die nach Deutschland ausgewandert sind, und solchen, die trotz des aktuellen Krieges die Ukraine nicht verlassen leben. Insgesamt 16 Personen erzählen ihre ganz persönlichen Geschichten. Ergänzt wird die Ausstellung durch Fotografien, die sowohl vor dem Zweiten Weltkrieg als auch in der Gegenwart entstanden.
Das Leben in den Schtetls
"Unsere Familie hatte einen kleinen Laden, direkt in dem Haus, in dem wir wohnten. Wir waren nicht reich, aber wir lebten gut", erinnert sich Aaron Weiss in einem Filminterview. Geboren wurde er 1926 in Boryslaw bei Lwiw. Damals gehörte dieser Teil der Westukraine zu Polen. Jüdische Familien widmeten sich traditionell dem Handwerk oder dem Handel und hielten sich an ihre religiösen Traditionen. Gleichzeitig gab es einen regen Austausch mit Menschen aus der Ukraine und Polen.
In Weiss' Kindheitserinnerungen wird der Alltag im Schtetl wieder lebendig. "Im Großen und Ganzen war das Verhältnis normal. Ich ging in eine polnische Schule und drückte mit polnischen Klassenkameraden die Schulbank", erzählt er. "Die jüdischen Kinder warteten auf Weihnachten, dann ging man von Haus zu Haus, sang Weihnachtslieder und bekam Geschenke. Und die polnischen Kinder warteten auf die jüdischen Feiertage Jom Kippur, Rosch Haschana oder Pessach, denen alle unsere Nachbarn, sowohl Polen als auch Ukrainer, mit Respekt begegneten, so wie wir auch deren Feiertage achteten. Man kann sagen, wir lebten zusammen und getrennt zugleich. Wir bewahrten unsere Werte und die Polen und Ukrainer ihre. All das endete mit Kriegsbeginn am 1. September 1939."
Der Holocaust wurde verschwiegen
Am Eingang der Ausstellung befindet sich eine interaktive Karte der Ukraine. Sie zeigt Volkszählungen aus verschiedenen Epochen. Die erste stammt aus den Jahren 1897 bis 1900, als die Ukraine teils zum Russischen Reich, teils zu Österreich-Ungarn gehörte. Die letzte ist von 2001, als die Ukraine schon zehn Jahre unabhängig war. "Wenn man auf die Entwicklung der jüdischen Gemeinden blickt, sieht man, dass sie negativ verläuft. Die Zahl der Juden geht stetig zurück", stellt Andrii Shestaliuk fest.
Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust löschten das jüdische Leben in der Ukraine fast völlig aus. Bis 1941 lebten dort etwa 2,7 Millionen Juden, so viele wie in keinem anderen europäischen Land. Verschiedenen Quellen zufolge fielen 1,5 bis 1,9 Millionen ukrainische Juden dem Holocaust zum Opfer, etwa 70 Prozent der jüdischen Bevölkerung. Aber in der Sowjetunion wurde über diese Tragödie geschwiegen: Sozialistische Ideale und die Definition als "Sowjetvolk" ließen keinen Raum für die Erinnerung an die Judenverfolgung.
Obwohl es in der Sowjetunion offiziell keinen Antisemitismus gab, wurden Juden diskriminiert. Die jüdische Religion und Kultur konnte nicht offen gelebt werden, Jiddisch sollte nicht gesprochen werden. Sofia Taubina aus Cherson, die heute in Augsburg lebt, berichtet, ihre Familie habe ihren Vater nicht nach jüdischer Tradition beisetzen können. Den Tallit, einen jüdischen Gebetsmantel, hätten sie ihm heimlich in den Sarg gelegt.
Rettung der ukrainisch-jüdischen Geschichte
Als die Ukraine 1991 unabhängig wurde, konnte das jüdische Leben sich wieder frei entfalten. Die Menschen besannen sich ihrer Wurzeln, Synagogen wurden eröffnet, es entstanden jüdische Bildungsorganisationen. "Man war absolut stolz, Jude zu sein", erinnert sich Yevhen Kotliar aus Charkiw, Professor an der dortigen Akademie für Kunst und Design. Er schuf die Buntglasfenster einer großen Choral-Synagoge in Charkiw, die in den 1990er-Jahren restauriert wurde.
Der letzte Teil der Ausstellung erzählt von Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine. Eines der Fotos zeigt das Holocaust‑Mahnmal Drobyzkyj Yar in Charkiw, das beim Beschuss durch russische Truppen beschädigt wurde. Ein anderes dokumentiert, wie sich Einwohner von Charkiw vor russischen Bombenangriffen in der U-Bahn in Sicherheit gebracht haben. Die Menschen sitzen auf dem Boden, auf Matten, Schlafsäcken oder auf Klappstühlen. "Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich mit so etwas konfrontiert", sagt Kotliar.
Als die Luftangriffe auf die Stadt im Osten der Ukraine begannen, floh er mit seiner Familie in den sichereren Westen des Landes. Der Weg dorthin führte durch kleine Dörfer in der Region Tscherkassy, wo früher jüdische Schtetl waren. "Für Juden sind das heilige Orte, sie sind sehr mythologisiert. Das ist eine eigene Dimension des jüdischen Erbes, eigentlich eine Pilgerkarte der Ukraine. Hier entstanden die chassidischen Bewegungen (eine ultraorthodoxe Strömung im Judentum, Anmerkung d. Red.)", so Kotliar.
Auf seiner Fahrt in den Westen der Ukraine fühlte sich Kotliar einerseits als Flüchtling, andererseits als Wissenschaftler, den es in eine für das Judentum sehr bedeutende Region der Ukraine verschlagen hat. In der Stadt Medschybisch, wo der Gründer der chassidischen Bewegung Baal Schem Tov lebte, ließ Kotliar seine Familie in einem Café zurück und ging zum jüdischen Friedhof, um alte Grabsteine zu fotografieren. "Ich dachte, der Krieg könnte diesen Ort erreichen und alles vernichten. Für mich verschmolzen in dem Moment Vergangenheit und Gegenwart. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben gefühlt", erzählt Kotliar.
"Jede Geschichte ist wichtig"
Bei einer Führung durch die Ausstellung wurde Kurator Andrii Shestaliuk einmal gefragt, welche der vielen Geschichte seiner Meinung nach die wichtigste sei. "Diese Frage konnte ich nicht beantworten. Jede Geschichte ist wichtig", betont er. Nicht umsonst heiße die Ausstellung "Voices. Ein Mosaik ukrainisch-jüdischen Lebens". "Jede Geschichte ist Teil eines Mosaiks, das ein riesiges Bild ergibt", erläutert Shestaliuk. Das mache sie so wertvoll.
Die Ausstellung im Gebäude der ehemaligen Synagoge Kriegshaber in Augsburg läuft noch bis zum 26. Februar 2023. Die Organisatoren arbeiten derzeit an einer digitalen Version und hoffen, dass die Filminterviews und anderen Materialien im Frühjahr 2023 auf der Website des Museums verfügbar sein werden.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk