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Gerettetes Archiv über jüdisches Leben online

Manasi Gopalakrishnan
5. Februar 2022

1941 versteckten jüdische Zwangsarbeiter in Polen unter Lebensgefahr Dokumente über jiddisches Leben vor den Nazis. Fast 80 Jahre später können sie jetzt online eingesehen werden.

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Ein aufgeschlagenes Buch aus der YIVO-Sammlung
Gut erhalten: ein Dokument aus der YIVO-SammlungBild: Thos Robinson/Getty Images

1925 waren prominente europäische Intellektuelle aus der jüdischen Gemeinschaft, darunter Sigmund Freud und Albert Einstein, an der Gründung des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts (Yidisher Visnshaftlekher Institut, YIVO) in Berlin und Wilno, Polen (heute Vilnius in Litauen) beteiligt. Aufgabe des Instituts war es, empirische Daten über das moderne jüdische Leben zu sammeln.

Dafür gab es gute Gründe: "Zwar hatten seit dem Mittelalter alle den Talmud studiert, die Kabbala der Thora", sagt Jonathan Brent, Geschäftsführer des in New York ansässigen YIVO Institute of Jewish Research, ein Institut zur Erforschung der Kulturgeschichte des osteuropäischen Judentums. "Aber niemand wusste", so Brent, "wie die Juden im Alltag tatsächlich lebten, sich in der Welt zurechtfanden und für ihre Kinder sorgten. Welche Traditionen pflegten sie? Welche Lieder sangen sie? Wie waren ihre Beziehungen zu ihren jüdischen und nichtjüdischen Nachbarn?"

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Ein Projekt der Selbsterkenntnis

Im selben Jahr, in dem das YIVO gegründet wurde, schickte Max Weinreich, der damalige Leiter der YIVO-Zweigstelle in Wilno, "Zamler" - jiddisch für Sammler - in die ganze Welt, um Informationen und Material von jüdischen Gemeinden zusammenzutragen. Er veröffentlichte auch Anzeigen, in denen er die Menschen bat, Plakate, Briefe, politische Erklärungen und Bücher als Material für die Studie über das moderne jüdische Leben beizusteuern.

Weinreichs Aufruf habe "die Phantasie der Jüdinnen und Juden beflügelt", sagt Jonathan Brent. "Ziel des YIVO-Instituts war es, dass der Prozess der Selbsterkenntnis dabei helfen sollte, eine moderne jüdische Identität aufzubauen", so Brent. Die Menschen seien von dieser Idee begeistert gewesen. In den folgenden Jahren entwickelte sich das YIVO zur "weltweit größten Materialsammlung zum osteuropäischen jüdischen Leben".

Manuskript über Astronomie, 1751, von Issachar Bär Carmoly (elsässischer Rabbiner)
"Manuskript über Astronomie", 1751Bild: Thos Robinson/Getty Images

Die Machtübernahme der Nazis 

Der Erfolg von YIVO war jedoch nur von kurzer Dauer. Die Nazis hatten 1939 Polen besetzt und marschierten 1941 in Vilnius ein. Im Auftrag von Alfred Rosenberg, dem Minister des Dritten Reichs für die besetzten Ostgebiete, wurden die Sammlungen vom YIVO beschlagnahmt. Die Idee war, einen Teil davon zu zerstören und einen Teil nach Frankfurt zu schicken, wo er als "Futter" für die antisemitische Ideologie dienen sollte.

Da die Nazis mit der jüdischen Kultur und den lokalen Sprachen nicht vertraut waren, brauchten sie Leute, um die umfangreichen Sammlungen des YIVO zu sichten. Also stellten sie rund 32 Zwangsarbeiter ein - hauptsächlich jüdische Intellektuelle, darunter die jiddischen Dichter Schmerke Kaczerginski und Avrom Sutzkever sowie den ehemaligen Ko-Direktor des YIVO, Zelig Kalmanovitch.

Mit der Beute abhauen

Irgendwann beschlossen die Mitglieder des Sortierprojektes im YIVO-Gebäude, dass sie den Nazis nicht alle Dokumente überlassen wollten. Verzweiflung trieb sie um, was mit dem Material sonst passieren könnte: "Die Alliierten könnten Bomben abwerfen. Und was wäre, wenn die Nazis am Ende des Krieges alles verbrannten?", erklärt Brent. Also entschied die Gruppe, die Dokumente in den Ghettos zu verstecken.

"In einer unglaublichen Anstrengung versteckten sie Bücher und Papiere und alle möglichen Dinge unter ihren Kleidern und in ihren Schuhen. Sie gingen mit diesem Material aus dem YIVO-Gebäude ins Ghetto. Wenn einer von ihnen dabei erwischt worden wäre, hätte man ihn sofort erschossen", so der Experte für jüdische Studien. Der Gruppe gelang es so, Hunderttausende von Seiten an Materialien und Büchern in Metallbehältern unter der Erde zu verstecken. Ein großer Teil davon wurde auch an ihre nichtjüdischen Freunde, an Litauer und Polen, weitergegeben.

Die Nachkriegszeit

1945 wurde ein Großteil des Materials, das die Nazis nach Frankfurt geschickt hatten, von einer US-Organisation, den Monuments Men, geborgen und nach New York geschickt. Dorthin war YIVO-Direktor Max Weinreich geflohen und hatte eine neue Basis für die Organisation eingerichtet. Die in Vilnius vergrabenen Dokumente wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgegraben.

"Sutzkever und Kaczerginski hatten die Idee, ein neues jüdisches Museum in Vilnius zu errichten", erklärt Brent und fügt hinzu, dass Vilnius zu dieser Zeit die Hauptstadt Litauens war, das unter sowjetischer Besatzung stand. Doch schon bald darauf begannen auch die Sowjets mit einer antisemitischen Hetzkampagne. Diesmal gab es keine jüdischen Intellektuellen mehr, die die Dokumente hätten retten können. Stattdessen bewahrte der litauische Bibliothekar Antanas Ulpis das Material in den verwinkelten Räumen der St.-Georgs-Kirche und des Karmeliterklosters in der litauischen Hauptstadt auf. Die Dokumente wurden schließlich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 wieder entdeckt.

Ein jüdisches Gemeindebuch liegt aufgeschlagen auf dem Tisch
Ein jüdisches Gemeindebuch aus dem Südwesten Litauens, 1836Bild: Thos Robinson/Getty Images

Eineinhalb Millionen Online-Exponate

Jonathan Brent wurde 2009 Geschäftsführer des YIVO-Instituts in New York. Als er in jenem Jahr Litauen besuchte, lagerten die Dokumente, wie er es ausdrückt, "in dunklen, unbelüfteten Räumen". Niemand sah oder las diese Materialien, die immer mehr verfielen. Daher initiierten Brent und seine Kollegen 2015 das Projekt Edward Blank YIVO Vilna Online Collections, um die Dokumente zu digitalisieren und die Sammlungen des YIVO in Litauen und New York virtuell wieder zusammenzuführen. 7 Millionen Dollar (6,2 Millionen Euro) und sieben Jahre später ist diese Sammlung nun online.

Heute besitzt das YIVO über 40.000 seltene und einzigartige Bücher und Zeitschriften sowie über 1,5 Millionen Dokumente, die von Juden in Osteuropa gesammelt wurden. Dazu gehört auch die "Autobiographie von Beba Epstein", die im Schuljahr 1933-1934 von der damals Elf- oder Zwölfjährigen geschrieben wurde. Ihr Buch, das auf der Website des YIVO-Museums eingesehen werden kann, bietet "einen Einblick in das Leben eines lebhaften, jungen Mädchens und einen Einblick in das Leben jüdischer Kinder in Osteuropa vor dem Holocaust".

Von Dichtkunst bis zum Kochrezept 

Ein weiteres bemerkenswertes Beispiel ist das Tagebuch von Theodor Herzl, der 1897 den ersten Zionistenkongress in Basel (Schweiz) einberief, nachdem er 1896 sein Buch "Der Judenstaat" veröffentlicht hatte. Er ist einer der Begründer der politischen Form des Zionismus, also der Bewegung zur Errichtung eines jüdischen Staates.

Laut Brent handelt es sich bei den Dokumenten um die größte Sammlung von Vorkriegsmaterial über jüdisches Leben: Es gibt einen Einblick in Folklore, Musik, Poesie und Theaterstücke, listet Kochrezepte auf und erläutert politische und soziale Strukturen oder die Organisation des Schulwesens ebenso wie medizinisches Fachwissen. Dem Betrachter soll das Verständnis dafür vermittelt werden, wie die jüdische Gesellschaft organisiert war - und das nicht ohne eine Prise Humor aus alten Zeiten. Ein jiddisches Wanderhandbuch aus dem Jahr 1927 gibt seinen jungen Lesern zum Beispiel folgenden Rat: "Rucksäcke müssen aufgehängt werden. Es ist schon vorgekommen, dass ein Rucksack verloren ging und erst im Maul einer Kuh wieder auftauchte."

Die Edward Blank YIVO Vilna Online Collections können hier aufgerufen werden.

Adaption aus dem Englischen: Paula Rösler