1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
20. Februar 2021Ein kaiserliches Dekret zu überbringen, war im 4. Jahrhundert keine einfache Sache. Schon allein logistisch. Ein Video, das auf der Homepage des Vereins321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zu sehen ist, erzählt mit einem Augenzwinkern, wie es sich damals im Römischen Reich abgespielt haben könnte.
Köln, damals Hauptstadt der niedergermanischen Provinz mit dem stolzen Namen Colonia Claudia Ara Agrippinensium, war im 4. Jahrhundert eine gefühlte Weltreise von Rom entfernt. Dort empfing Kaiser Konstantin eine Anfrage des Kölner Stadtrats, der eine marode Brücke reparieren wollte. In der Stadt am Rhein war das Geld knapp. Ein Jude namens Isaac wolle aushelfen - doch dafür müsse er ein Amt im Stadtrat vertreten, schrieben die Kölner an Kaiser Konstantin.
Erster Beleg für jüdisches Leben nördlich der Alpen
Der Kaiser wusste wahrscheinlich nicht, was für ein historisch wertvolles Zeugnis er mit diesem Dekret schuf. Denn das Dokument ist die früheste erhaltene schriftliche Quelle zum jüdischen Leben in Europa nördlich der Alpen. Darin ist zu lesen: "Durch reichsweit gültiges Gesetz erlauben wir allen Stadträten, dass Juden in den Stadtrat berufen werden." Dieser Erlass, der nach Köln zurückgesandt wurde, beweist eindeutig, dass damals Juden in Köln lebten.
Bereits in den 1950er-Jahren buddelten Archäologen erste Schätze der Judengemeinde unter dem Kölner Rathausplatz aus. Sie stießen damals auf Reste einer Synagoge aus dem 11. Jahrhundert und des rituellen Frauenbads Mikwe. Doch als der Rathausplatz während des Wiederaufbaus des zerstörten Nachkriegs-Köln zum Parkplatz umfunktioniert wurde, verschwanden die archäologischen Funde für Jahrzehnte wieder unter der Erde. Erst 2007 rissen Archäologen das Pflaster erneut wieder auf.
Archäologen entdeckten jüdisches Viertel in Köln
Und sie machten einen Jahrhundertfund: Das Wirrwarr von Gassen, Mauern, Kellern und Treppen, das bei den Grabungen freigelegt wurde, entpuppte sich als das komplette mittelalterliche jüdische Viertel von Köln. Haben Teile davon schon im Jahr 321 gestanden?
Über der archäologischen Fundstelle soll bis voraussichtlich 2024 ein Museum entstehen. Außerdem hat sich Köln um einen Eintrag als UNESCO-Welterbestätte beworben. Auch in anderen deutschen Städten sind Funde jüdischen Lebens aus dem beginnenden Mittelalter belegt.
In Augsburg stießen Archäologen auf eine Öllampe aus dem 4./5. Jahrhundert, darauf ist eine Menora abgebildet, ein jüdischer Leuchter.
Und auch in Trier gab es jüdisches Leben, wie ein Edikt von Kaiser Valentinian I. (364-375) beweist, das die Einquartierung von Soldaten in Synagogen verbot.
Köln ist Keimzelle des Aktionsjahres
Das Dekret Konstantins von 321 allerdings ist die älteste Quelle und damit ein wichtiger Beleg dafür, dass es eine "Koexistenz verschiedener Religionen gab", wie es Andrei Kovacs, Geschäftsführer des Vereins "321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" und Mitveranstalter des Jubiläumsjahrs, formuliert.
Gerade in der heutigen Zeit sei es besonders wichtig, "jüdisches Leben sichtbar zu machen", so Kovacs. Der 46-jährige Musiker und Unternehmer stammt aus einer jüdisch-ungarischen Familie. Seine Großeltern überlebten das Budapester Ghetto und das KZ Bergen-Belsen.
"Antijudaismus und Antisemitismus sind wahrscheinlich über 1700 Jahre alt. Aber wir wollen auch zeigen, was Jüdinnen und Juden in den gemeinsamen Jahren zur Gesellschaft beigetragen haben", sagt er im DW-Interview.
"Es gibt heute zahlreiche tolle Initiativen, um Begegnungen zu schaffen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen in unserer Gesellschaft."
Zeichen gegen Rassismus
Das Festjahr wird am 21. Februar 2021 mit einem Festakt eröffnet. Zu den Veranstaltungen gehört, basierend auf dem Dekret von Kaiser Konstantin, eine Wanderausstellung, die neben Köln in weiteren Städten Nordrhein-Westfalens sowie in Berlin Station machen wird. In Themen wie "Recht und Unrecht", "Leben und Miteinander", "Religion und Geistesgeschichte" sowie "Gesichter, Geschichten und Gefühle" werden die Alltags- und Geistesgeschichte des Judentums in Deutschland erfahrbar gemacht. Ein Podcast beleuchtet wöchentlich die Diversität jüdischen Lebens in Deutschland.
"Unsere Strategie ist es, einen neuen Ansatz zu wagen. Mit niedrigschwelligen Veranstaltungen möchten wir eine möglichst breite Gesellschaftsschicht ansprechen und auch mal einen einfachen Zugang zu jüdischer Kultur schaffen", so Andrei Kovacs gegenüber der DW.
Während des deutschlandweiten Themenjahres soll es ein Puppentheater, das spielerisch die jüdischen Feiertage erklärt, das Tanz- und Performance-Festival "Israel ist real", Verköstigungen koscheren Essens und einen "Jüdischen Kultursommer" geben. Wegen der Corona-Pandemie sei die Planung nicht nur analog, sondern gleich auch digital aufgesetzt worden. Bei einem Lockdown könnten diese kulturellen Highlights auch online angeboten werden.
Antijüdische Darstellungen demontieren
"1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" sei bewusst als Veranstaltung geplant, die nicht nur zurückblicke, erklärt Kovacs. Themen wie Judenverfolgung und Holocaust gehörten zwar dazu, sollen aber während des Jubiläumsjahres nicht im Vordergrund stehen. "Wir wollen der oft schwierigen und tragischen Vergangenheit etwas Positives entgegenstellen".
Als einen Höhepunkt nennt Kovacs das Projekt "Sukkot XXL", das versucht, auf einfache Weise einen jüdischen Feiertag wie das Laubhüttenfest vorzustellen. "Wir möchten gemeinsam eine Laubhütte, eine 'Sukka', bauen und dekorieren. Es geht darum, viel Zeit darin zu verbringen: gemeinsam darin zu essen, zu trinken, sich zu unterhalten, zu lachen, zu streiten. So möchten wir möglichen Vorurteilen oder Phantasmen entgegenwirken."
Am Kölner Dom wird ein neues, aktuelles Kunstwerk zum heutigen Verhältnis von Juden und Christen entstehen. Das Erzbistum Köln möchte auch durch die Auseinandersetzung mit antisemitischen Skulpturen, wie der sogenannten "Judensau" am Dom, einen nachdenklichen Beitrag zum Gedenkjahr leisten. Der Kölner Rabbiner Yechiel Brukner fordert ein radikales Vorgehen: "Großartig wäre, wenn man beschließen würde, ganz mutig und revolutionär: Schluss mit den anti-jüdischen Darstellungen im Dom."
Eine Diskussion um ähnliche Spott-Kunstwerke gab es auch an anderen deutschen Kirchen. Entfernt wurde bislang noch keine. Die Debatte in Schwung zu bringen, kann helfen, tiefsitzende Vorurteile ans Licht zu bringen. "Ich hoffe, dass wir in diesem Jahr genau solche 'offenen Wunden' sichtbar machen und solche wichtigen Diskurse anregen können", so Kovacs.
Im Jubiläumsjahr soll aber das Schöne und das Miteinander der Religionen im Mittelpunkt stehen.
Dieser Artikel wurde am 05.01.2021 und am 19.02.2021 aktualisiert.