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Ärzte ohne Grenzen: "Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen"

Peter Hille5. August 2015

Ein Flüchtlingsboot ist gekentert, hunderte Menschen vor der Küste Libyens sind wohl ertrunken. Florian Westphal von "Ärzte ohne Grenzen" beschreibt im DW-Interview den Rettungseinsatz im Mittelmeer.

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Retter der Dignity 1 bei einem Einsatz im Mittelmeer (Archiv)(Photo: Marta Soszynska / MSF)
Retter der Dignity 1 bei einem Einsatz im Mittelmeer (Archiv)Bild: Marta Soszynska / MSF

DW: Herr Westphal, vor der Küste Libyens sind wohl Hunderte Flüchtlinge ertrunken, als ihr Boot kenterte. Hilfsschiffe von "Ärzte ohne Grenzen" waren in der Nähe. Konnten sie Menschen retten?

Florian Westphal: Eines unserer Schiffe, die Dignity 1, ist am Unglücksort eingetroffen und konnte einige Menschen aus dem Wasser bergen. Wir können momentan nicht sagen, wie viele Menschen zu Tode gekommen sind. 700 sollen an Bord des gekenterten Schiffs gewesen sein. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.

DW: Können sie denn schon auf den Rettungsschiffen selbst helfen? Hat die Dignity 1 medizinisches Gerät an Bord?

Wir haben sowohl Personal als auch Ausrüstung an Bord, die es uns erlaubt, zumindest Erste Hilfe zu leisten. Viele der Flüchtlinge sind zum Beispiel schwer dehydriert, haben großen Durst, weil sie stundenlang auf einem Schlauchboot waren, ohne ausreichend trinken zu können. Andere haben Verwundungen, um die wir uns kümmern können. Und wir können auch gleich mit dem Prozess beginnen, den Flüchtlingen zu helfen, dieses Trauma der Überfahrt zu überwinden. Flüchtlinge mit grundlegenderen medizinischen Problemen müssen natürlich an Land behandelt werden. Aber soweit wir können, helfen wir an Bord.

Ärzte ohne Grenzen - Hilfsschiff Dignity I (Photo: MSF)
Das Hilfsschiff Dignity 1 soll 94 Menschen an Bord genommen habenBild: MSF/Juan Carlos Tomasi

Wie viele Schiffe haben Sie im Einsatz?

Wir von Ärzte ohne Grenzen betreiben momentan zwei Schiffe selbst im Mittelmeer. Bei einem dritten Schiff arbeiten wir zusammen mit der "Migrant Offshore Aid Station", einer Nichtregierungsorganisation aus Malta.

Was konnten Sie damit bislang erreichen?

Seit Anfang Mai konnten wir etwa zehntausend Menschen im Mittelmeer aus dem Wasser retten oder von ihren Booten aufnehmen, um sie dann sicher nach Italien zu bringen.

Was passiert dort? Können Sie sich um die Geretteten jetzt weiter kümmern oder übernehmen die italienischen Behörden?

In Italien haben natürlich die Behörden die Hauptverantwortung dafür, dass diese Menschen versorgt werden. Wir sind aber auch dort mit tätig und kümmern uns um die medizinische Versorgung vor allem in einem Erstaufnahmezentrum in Pozzallo auf Sizilien. Wir betreuen Flüchtlinge, die länger in Sizilien bleiben, auch psychologisch. Man darf nicht vergessen, dass diese Menschen sehr oft nicht nur von den Umständen in ihren Heimatländern traumatisiert sind sondern auch von den furchtbaren Umständen dieser Flucht. Mit dem letzten, tragischen, enorm gefährlichen Kapitel: der Überquerung des Mittelmeers.

Was müsste sich in Europa Ihrer Meinung nach ändern, damit die Dignity 1 und andere Schiffe nicht mehr auf dem Mittelmeer gebraucht würden?

Florian Westphal Ärzte ohne Grenzen (Photo: Barbara Sigge)
Florian Westphal, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne GrenzenBild: Barbara Sigge

Die EU und ihre Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, müssen ganz klar ihre Politik verändern. Sie müssen es Menschen auf der Flucht ermöglichen, auf legalem und sicherem Weg in die EU einzureisen, um dort Asyl beantragen zu können. Das würde auch allen Schleppern das Handwerk legen. Dieser ganze Vorfall von heute belegt wieder einmal, dass die Politik der Europäischen Union dazu führt, dass sich Menschen auf diese verrückte Reise machen müssen und diese Risiken eingehen. Denn sie macht Menschen auf der Flucht unmöglich, auf sicherem und legalem Weg nach Europa zu gelangen. Sie müssen ihr Leben riskieren, weil es einfach keinen anderen Weg nach Europa gibt für die meisten von ihnen.

Florian Westphal ist Geschäftsführer der deutschen Sektion der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen".

Das Interview führte Peter Hille.