Ägypten: Haftentlassungen und Repression
29. Oktober 2022Seine erste Nacht in Freiheit nach drei Jahren und vier Monaten Haft verbrachte Sijad el-Elaimi nicht in seinem eigenen Zuhause, sondern im Haus seiner Familie. "Er wird ein wenig Zeit mit uns verbringen, bevor er in sein eigenes Heim zurück zieht", sagte seine Mutter Ekram Yousef der Deutschen Welle.
Da der ehemalige ägyptische Parlamentsabgeordnete und Menschenrechtsanwalt el-Elaimi nicht direkt mit der internationalen Presse sprechen darf, veröffentlichte er nach seiner Freilassung in den sozialen Medien eine Botschaft auf Arabisch. Der 42-Jährige erklärte: "Es gibt Menschen, die im Gefängnis enden, nur weil sie eine Meinung äußern, die von den Meinungen abweicht, die die Leute gerne hören. Gemeinsam werden wir die Freiheit dieser Menschen zurückerobern und ihnen wieder ihren rechtmäßigen Platz unter den Menschen einräumen, die an sie glauben."
Seine Nachricht nimmt Bezug auf Tausende weitere politische Häftlinge in Ägypten, darunter auch Alaa Abdel Fattah, der sich seit dem 2. April im Hungerstreik befindet. Trotz der Sorgen um die Gesundheit ihres Bruders nach 207 Tagen Hungerstreik feierte seine Schwester Sanaa Seif die Freilassung von el-Elaimi sofort mit einer Nachricht auf Twitter: "Sijad, unser Freund aus Kindertagen, ist endlich frei."
Die Fälle von el-Elaimi und Abdel Fattah ähneln sich, denn beide wurden wegen "Verbreitung falscher Nachrichten", "Terrorismus" und wegen "Schürens von Aufruhr gegen den Staat" schuldig gesprochen, Vorwürfe, die die beiden Männer kategorisch von sich weisen.
Beobachter gehen davon aus, dass auch Abdel Fattah bald freigelassen wird. Die Freilassung von el-Elaimi erfolgte nach einer Begnadigung durch Präsident Abdel Fattah al-Sisi. Damit war der Staatschef einer Empfehlung des ägyptischen Begnadigungsausschusses gefolgt, einem Regierungsgremium, das erst in diesem April wieder eingesetzt worden war.
Seitdem der Ausschuss eine Arbeit wiederaufgenommen hat, wurden mehr als tausend politische Gefangene in die Freiheit entlassen. Den Zahlen mehrerer Menschenrechtsorganisationen zufolge befinden sich jedoch noch nahezu 60.000 Personen aus politischen Gründen in Haft.
"Es ist wundervoll, dass Sijad el-Elaimi nach mehr als drei Jahren ungerechtfertigter Haft endlich freigelassen wurde. Aber das Amnestieprogramm bedeutet nicht, dass die ägyptische Regierung die Unterdrückung politischer Gegner und kritischer Stimmen beendet", stellt Timothy E. Kaldas vom Tahrir-Institut für Nahostpolitik (TIMEP) in Washington gegenüber der Deutschen Welle fest: "Wir sollten nicht vergessen, dass die Freilassung so vieler politischer Gefangener ein klarer Beweis dafür ist, dass die frühere Behauptung des Präsidenten, in Ägypten gebe es keine politischen Gefangenen, niemals der Wahrheit entsprochen hat."
Internationaler Druck vor der Klimakonferenz
Sijad el-Elaimis Freilassung fällt in eine Zeit, in der im Vorfeld der UN-Klimakonferenz COP27 von vielen Seiten Druck auf Ägypten ausgeübt wird. Das Treffen beginnt am 6. November im ägyptischen Urlaubsort Scharm el-Scheich am Roten Meer. Internationale Menschenrechtsorganisationen haben Ägypten aufgefordert, die Unterdrückung der Zivilgesellschaft zu beenden. Auch wirtschaftlicher Druck steigert Ägyptens Motivation, sein internationales Ansehen aufzupolieren.
"Es gibt weltweit Bedenken wegen der Rechtsverletzungen in Ägypten, und die haben nicht nur die Vorbereitungen für die COP27 beeinträchtigt, sondern auch dazu geführt, dass die USA einen Teil ihrer Militärhilfe für Ägypten zurückgehalten haben", erklärt Kaldas.
Laut einem im September von der Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichten Bericht "hat die Regierung Biden beschlossen, für Ägypten bestimmte militärische Auslandshilfe in Höhe von 130 Millionen US-Dollar zurückzuhalten, weil das Land Menschenrechtsauflagen nicht erfüllt". Dies entspricht einem Zehntel der Gesamtsumme von 1,3 Milliarden US-Dollar, die die USA jährlich für Ägypten bereitstellt.
Währenddessen stieg die Inflation laut der ägyptischen Statistikbehörde von acht Prozent im September vergangenen Jahres auf jetzt 15,3 Prozent. Da das Land nur über geringe Reserven verfügt, hat es Mühe, internationale Kredite zurückzuzahlen.
Die ägyptische Regierung stehe unter starkem finanziellen Druck, schreibt die Menschenrechtsanwältin und Geschäftsführerin des Tahrir-Instituts Mai el-Sadany in einem Beitrag für das Online-Magazin "World Politics Review". Das Regime befinde sich inmitten einer galoppierenden wirtschaftlichen Krise, "die weiter verschärft wird durch die Auswirkungen des russischen Krieges in der Ukraine auf Lebensmittel- und Energiepreise sowie die schwindende Bereitschaft der Verbündeten, bedingungslose Finanzhilfe zu leisten". Analysten gingen darum davon aus, dass ägyptische Regierungsvertreter die COP27 nutzen wollten, "um das Land als Vorreiter in Sachen Klimaschutz sowohl in Afrika als auch in der internationalen Gemeinschaft darzustellen und so ausländische Investitionen und Klimafinanzierung anzuziehen".
Klima der Angst statt demokratische Rechte
Für Lina Khatib, Direktorin des Nahost- und Nordafrikaprogramms bei Chatham House in London, ist der Umgang mit Bürgerrechtsaktivisten "ein echter Test für Ägyptens Bekenntnis zu den Menschenrechten". Nur eine unabhängige Zivilgesellschaft, die frei agieren kann, wäre ein Beleg dafür, dass der ägyptische Staat es ernst meint mit der Einhaltung der Menschenrechte, betont sie gegenüber der DW. Die jüngst von der ägyptischen Regierung erlassenen Einschränkungen demokratischer Rechte legen jedoch nahe, dass dies nicht der Fall ist.
Anfang des Monats beschnitt die Regierung die Handlungsfreiheit von Umweltgruppen, die während der COP27 Veranstaltungen abhalten wollen. Laut einem kürzlich vom UN-Hochkommissariat für Menschenrechte veröffentlichten Bericht haben "Festnahmen und Inhaftierungen, das Einfrieren der Vermögenswerte von regierungsunabhängigen Organisationen und deren Auflösung sowie Reisebeschränkungen für Menschenrechtsaktivisten ein Klima der Angst für ägyptische zivilgesellschaftliche Organisationen geschaffen, die sich auf der COP27 sichtbar engagieren wollen".
Die ägyptische Regierung bezeichnet den Bericht als "irreführend". Doch zivilgesellschaftliche Organisationen in Ägypten sagen bereits Veranstaltungen in der blauen Zone ab, dem von der UN kontrollierten Bereich, in dem sich internationale Gesandte während des Gipfels treffen.
Der Menschenrechtsanwalt Sijad el-Elaimi wird nach seiner Haftentlassung vermutlich nicht lange nach neuen Klienten suchen müssen. Doch bevor er zu seiner Arbeit zurückkehrt, will er sich erst einmal seiner Gesundheit widmen, erzählt seine Mutter. "Er muss zu verschiedenen Ärzten, denn aufgrund der langen Haft leidet er unter hohem Blutdruck und Lungenproblemen. Aber ich bin voller Hoffnung, dass diese Zeit ein für alle Mal vorbei ist."