"Frage der Verhältnismäßigkeit"
8. Februar 2014Im November 2013 wurde bekannt, dass in der Wohnung von Cornelius Gurlitt, dem Erben des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, über 1400 Kunstwerke beschlagnahmt worden waren. Dabei soll es sich zum Teil um NS-Raubkunst handeln. Der Fall, der international für großes Aufsehen sorgt, hat Anfang Februar eine überraschende Wendung genommen: Nun klagen die Anwälte des Kunst-Erben gegen Unbekannt wegen schwerer Verletzung von Gurlitts Persönlichkeitsrechten. Christoph Zuschlag war von 2003 bis 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle "Entartete Kunst" am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin. Die Forschungsstelle hat dazu beigetragen, das Schicksal von etwa der Hälfte der insgesamt rund 21.000 Gemälde, Grafiken und Skulpturen der Moderne aufzuklären, die die Nationalsozialisten als "entartet" aus Museen und Kunsthäusern verbannt hatten. Seit 2007 ist Zuschlag Professor für Kunstgeschichte und Kunstvermittlung an der Universität Koblenz-Landau, seit 2008 sitzt er im wissenschaftlichen Beirat der Arbeitsstelle Provenienzforschung der Staatlichen Museen zu Berlin.
DW: Herr Zuschlag, halten Sie die Anzeige, die Cornelius Gurlitt gestellt hat, für gerechtfertigt?
Ich finde es zumindest nachvollziehbar, dass Gurlitts Anwälte seine Persönlichkeitsrechte verletzt sehen. Im Rahmen der Presseberichterstattung sind doch auch offenbar Dinge aus den Ermittlungsakten publiziert, Fotos der Wohnung gezeigt worden, usw. Alles Dinge, die zu den Persönlichkeitsrechten gehören, so dass ich diese Anzeige gegen Unbekannt nachvollziehbar finde. Ob sie gerechtfertigt ist, ist natürlich letztlich eine Frage, die juristisch zu bewerten ist. Aber ich bin schon der Meinung, dass Gurlitt in einer Weise dargestellt wurde, die seine Persönlichkeit berührt, und deswegen hätte ich als Anwalt womöglich ebenso entschieden.
Wie sehen Sie selbst das Vorgehen der Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen?
Um das zu beurteilen, müsste man die genaue Begründung kennen, das tue ich nicht. Was meines Erachtens kritisch zu hinterfragen ist, ist die Frage der Verhältnismäßigkeit. Denn der Verdacht der Steuerhinterziehung war ja offenbar der Grund, warum sich die Behörden Zutritt zur Wohnung Gurlitts verschafft haben. Aber ob dieser Verdacht im Verhältnis steht zur Beschlagnahme von über 1400 Kunstwerken, das ist doch sehr fraglich. Insofern sind kritische Nachfragen und Zweifel angebracht.
Ich persönlich vermute, dass die Behörden selbst von den Ergebnissen der Beschlagnahme überrascht waren. Die Zollbeamten haben sich Zutritt verschafft, dazu hatten sie ja sicher eine entsprechende Rechtsgrundlage, dann sahen sie hunderte von Kunstwerken, die sie vermutlich überhaupt nicht einordnen konnten. Dann stand vielleicht der Verdacht im Raum, das sei Hehlerware. Erst im Zuge der Ermittlungen kam raus, um was es sich dabei handelt. Aber das ist eine reine Vermutung. Fest steht, dass die Verhältnismäßigkeit meines Erachtens wirklich kritisch zu hinterfragen ist.
Bei dem Gegenwert, der da im Raum steht, hätten vielleicht ein, zwei Kunstwerke als Pfand genügt. Und es ist äußerst umstritten, ob es legal ist, einen Teil des Kunstbesitzes von Gurlitt zu veröffentlichen, bevor man überhaupt weiß, in welche Kategorie sie gehören, also ob es sich um Raubkunst oder von den Nazis als "entartet" beschlagnahmte Kunst oder weder - noch handelt.
Gibt es im Fall Gurlitt einen Unterschied zwischen privatem und öffentlichem Recht?
Wir haben in Deutschland überhaupt kein Restitutionsgesetz. Wir haben, was die Restitutionspraxis - die Rückgabe von Raubkunst - angeht, eine Praxis, die nach fairen und gerechten Lösungen sucht, im Geiste der "Washingtoner Erklärung". Die Frage der Restitution von Raubkunst ist eine gleichsam moralische Selbstverpflichtung. Es gibt kein Gesetz wie in Österreich, sondern die öffentlichen Einrichtungen bzw. deren Träger haben sich selbst verpflichtet, nach Raubkunst zu suchen und sie gegebenenfalls zu restituieren oder eben nach fairen und gerechten Lösungen zu suchen. Für Privatbesitz gilt das ohnehin nicht. Wenn also Sie oder ich zu Hause ein Kunstwerk über dem Sofa hängen haben, bei dem herauskommt, dass es sich dabei um Raubkunst handelt, gibt es bislang keine juristische Grundlage, die zu einer Restitution führen müsste.
Was halten Sie vom Vorschlag des bayerischen Justizministers Winfried Bausback, die Verjährung abzuschaffen?
Man muss sich klarmachen, dass mit der Verjährung in den letzten Jahren meines Wissens nicht argumentiert wurde. Das heißt, wenn in Museen Raubkunst identifiziert wurde, hat man in den meisten Fällen nicht unter Verweis auf die Verjährungsfrist von einer Restitution abgesehen. Sie wurde also de facto schon ausgesetzt.
Die "Lex Gurlitt" von Bausback ist, soweit ich das als Nichtjurist verfolgt habe, ja auch unter Juristen äußerst umstritten, weil sie rückwirkend gültig sein müsste, um für den Fall Gurlitt überhaupt noch zum Tragen zu kommen. Und das ist offenbar auch verfassungsrechtlich höchst umstritten. Kürzlich hat auch der Berliner Rechtsanwalt und Kunstexperte Peter Raue vor einem Gesetz gewarnt. Er sagt, die Sachlage sei so komplex und jeweils unterschiedlich, dass man sie nie mit einem Gesetz in den Griff kriegen könnte. Ich wäre, was jegliche Gesetzesüberlegungen angeht, sehr skeptisch und vorsichtig. Man muss auch aufpassen, dass hier nicht im Eifer des Gefechts über das Ziel hinausgeschossen wird.
Scheint beim Fall Gurlitt insgesamt eine gewisse Kopflosigkeit vorzuherrschen?
Es ist auch der Druck der Öffentlichkeit und der Medien, der die Politik in die Ecke drängt, nach dem Motto: "Ihr müsst jetzt was tun - und zwar schnell und umfassend". Vielleicht führt auch das dann zu Vorschlägen wie jenem von Herrn Bausback.