Zunehmende Attacken auf LGBT+ in der Türkei
17. März 2021Vor einem Monat verschwand Miras Günes aus Izmir spurlos. Jetzt gibt es Gewissheit, dass sie getötet wurde. Der vorläufige Autopsiebericht ergab: Die Transfrau wurde mit einem harten Gegenstand erschlagen, ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Nach den Tätern wird zurzeit gefahndet.
Die Tat weckt Erinnerungen an ein ähnliches Verbrechen, das sich am 9. März im Istanbuler Stadtteil Beyoglu ereignete: Ein 18-Jähriger hatte eine Transfrau mit Säure attackiert. Sie erlitt Verbrennungen am ganzen Körper und verlor einen erheblichen Teil ihres Sehvermögens.
Nur eine Woche zuvor war es im Istanbuler Stadtteil Sisli zu einem weiteren Überfall gekommen: Harun S. verfolgte die Transfrau Asel bis zu ihrer Haustür, wo er sie mit vorgehaltener Waffe vergewaltigte. "Ich dachte, dass es sich um eine Frau handelt. Doch es stellte sich heraus, dass es ein Mann ist", verteidigte er sich später. Der Täter wurde anschließend wieder freigelassen.
Morde an LGBT+-Personen: Ein unterschätztes Problem
Die drei Gewalttaten, die sich in den vergangenen zwei Wochen zutrugen, gingen durch die türkische Presse und sorgten für Diskussionen in der türkischen Öffentlichkeit. Eine Studie des LGBT+-Vereins "Pembe Hayat", zu Deutsch "Rosa Leben", legt jedoch nahe, dass es sich nicht bloß um eine zufällige Häufung von Einzelfällen handelte. Seit 2008 sind nach offiziellen Angaben 54 Transmenschen in der Türkei getötet worden. Der Verein schätzt die Dunkelziffer jedoch deutlich höher ein. Denn "suspekte Todesfälle und Selbstmordversuche sowie nicht registrierte Todesfälle" sind nicht in die Statistik mit eingeflossen.
Yıldız Tar von der LGBTI-Organisation Kaos GL hebt hervor, dass Angriffe auf Transsexuelle nicht als Einzelfälle betrachtet werden dürften, sondern als ein gesellschaftliches Problem. "Hassverbrechen resultieren aus einer sehr langen Geschichte der Diskriminierung. Solche Angriffe werden durch eine Ordnung der Ungleichheit überhaupt erst möglich."
Keine Hilfe von den Behörden
Efruz Kaya vom LGBTI-Verein Rosa Leben berichtet, dass sich etwa eine Transfrau, die Opfer einer Säureattacke wurde, drei Tage vor dem Angriff an eine Polizeistation gewandt hatte, weil sie von einem unbekannten Mann bedroht und geschlagen worden war. Die Polizei habe den Fall jedoch nicht bearbeiten wollen. "Die männlich dominierten Sicherheitsbehörden kümmern sich nicht um uns. Es gibt kein Vertrauen in die Justizbehörden", so Kaya.
Die Aktivistin ergänzt, dass Transmenschen in der Türkei in verschiedenster Form Diskriminierungen ausgesetzt seien. "Ihnen werden oft sogar die grundlegendsten Rechte wie das Recht auf Arbeit, Wohnen, Gesundheit oder Bildung verwehrt und das wird auch noch als legitim angesehen." So sei die soziale Ächtung dieser Personengruppe in der Türkei weit verbreitet.
Der LGBT+-Aktivist und Rechtsanwalt Levent Pişkin weist darauf hin, dass Polizeibeamte gemäß Artikel 10 der türkischen Verfassung verpflichtet seien, alle Menschen gleich zu behandeln. Trotzdem würden sie LGBT+-Personen nicht schützen, sondern Homophobie und Transphobie sogar noch fördern. Zudem würden Hassverbrechen gegen Transsexuelle oft nur unzureichend juristisch aufgearbeitet.
Doch nicht nur Transmenschen haben in der Türkei einen schweren Stand. Von der türkischen Regierung ist eine immer schärfere Rhetorik gegenüber der gesamten LGBT+-Community zu vernehmen. Das zeigte sich besonders beim Ausbruch der Studentenproteste an der Bogazici-Universität: Die Studenten organisierten eine Kunstausstellung auf dem Uni-Campus. Eines der ausgestellten Exponate zeigte die Kaaba in Mekka - ein zentrales Heiligtum des Islam - und daneben eine Regenbogenflagge, das Symbol der LGBT+-Szene. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft leitete daraufhin Ermittlungen ein, vier Studenten wurden festgenommen, zwei von ihnen kamen anschließend in Untersuchungshaft. Seit Anfang Januar gibt es in Istanbul regelmäßig Razzien oder willkürliche Festnahmen von Studenten, die gegen die Ernennung des regierungsnahen Professors Melih Bulu zum Rektor der renommierten Universität protestieren.
LGBT+-Anhänger im Visier der Politik
Begleitet wurden diese Aktionen von homo- und transphoben Aussagen einiger Regierungspolitiker. "LGBT, so etwas gibt es überhaupt nicht", wetterte etwa der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Auch der Kommunikationschef des Präsidentenpalast Fahrettin Altun äußerte sich abwertend. "Konzepte wie Freiheit und Toleranz sollten niemals für die Propaganda von Homosexuellen instrumentalisiert werden." In den sozialen Medien wurde ein Tweet des türkischen Innenministers Süleyman Soylu besonders kritisiert: "Vier LGBT-Perverse, die die Kaaba an der Bogazici-Universität verunglimpften, wurden festgenommen", heißt es dort.
Viele Mitglieder der LGBT+-Community sehen eine massive Zunahme von Homo-und Transphobie in der Türkei. Eine frühere Institution der Schwul-Lesbischen-Gemeinde in der Türkei, speziell in Istanbul, war die Gay Pride, die seit 2003 am Bosporus stattfand. Wendepunkt war das Jahr 2015, als es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam, woraufhin die Gay Pride verboten wurde. Für viele Regierungsvertreter war dies der Anfang, eine immer homo- und transphobere Haltung in der Öffentlichkeit einzunehmen.
Rechtsanwalt Levent Pişkin macht vor allem die Politik für das immer feindseligere Klima in der Türkei verantwortlich. Öffentliche Verwaltung, Minister und Politiker hätten einen Diskurs eingeleitet, der sich klar gegen die LGBT+-Community richte. "Wir sehen, dass der Staat von einer Politik der Verleugnung zu einer Politik der offenen Diffamierung übergegangen ist, der besonders in den Sozialen Medien ausgelebt wird", kritisiert er.
Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut.