Erdogans neues altes Feindbild
6. Februar 2021"Sind das Studenten oder Terroristen, die versuchen, das Zimmer des Rektors zu überfallen und zu besetzen?", sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zuletzt über die Studenten der renommierten Istanbuler Bogazici-Universität. Seit Anfang Januar protestieren dort Studenten gegen die Ernennung des ehemaligen AKP-Politikers Melih Bulu zum Unirektor - eine Entscheidung, die der türkische Präsident per Dekret fällte.
Mit eiserner Hand versucht die Polizei die Proteste zu unterdrücken. Willkürliche Festnahmen und nächtliche Razzien standen in den vergangenen Wochen auf der Tagesordnung. Erdogan behauptete, dass sich oppositionelle Akteure unter die Studenten gemischt hätten, die in der Vergangenheit "bei ihren Kundgebungen schmutzige Szenarien wie einen Putsch forderten".
Zudem verglicht der islamisch-konservative Präsident die Studentenproteste mit den Gezi-Park-Demonstrationen im Jahr 2013 und stellte Vorwürfe in den Raum: "Wir haben damals miterlebt, wie Eigentum von Händlern geplündert wurde. Wie sie mit Bierdosen in der Hand die Bezmiâlem-Vâlide-Sultan-Moschee besetzten".
Erdogan zieht Parallele zu Gezi-Protesten
Die Anschuldigungen des Präsidenten wurden jedoch nie belegt. Der in der besagten Moschee tätige Imam und der Muezzin konnten die Vorwürfe nicht bestätigen - sie hätten niemanden gesehen, der in dem Gotteshaus Alkohol konsumiert habe. Beide Geistliche wurden nach ihrer Stellungnahme an andere Moscheen versetzt.
Dass Erdogan Parallelen von den Gezi-Park-Protesten zu den jungen Protestierenden der Bogazici-Uni zieht, hat viele Wahlforscher überrascht. Weil sich der Stimmenanteil von Erdogans islamisch-konservativer AKP laut der großen Umfrageinstitute zurzeit unter 40 Prozent befindet, könnte man erwarten, dass jede Stimme zählen würde - auch die der jungen Menschen.
"Im Jahr 2011 gelang er der Regierungspartei AKP noch 42 bis 43 Prozent der Stimmen aus der Altersgruppe 18 bis 24 Jahren zu holen", sagt Meinungsforscher İbrahim Uslu. Die Beziehung zwischen der AKP und der Jugend sei nach den Gezi-Park-Protesten jedoch kaputt gegangen - danach sei die Zustimmung zur AKP in dieser Altersgruppe auf 30 Prozent gesunken. "Es war die raue Sprache, die dazu führte, dass sich die Gezi-Jugend von der AKP abgewendet hat", so Uslu.
Obwohl sich Erdogans harscher Umgang mit der jungen Wählergruppe während der Gezi-Park-Proteste im Nachhinein rächte, scheint der Präsident diesen Kurs auch sieben Jahre später bei den Istanbuler Stundenprotesten zu wiederholen. Das offensichtliche Kalkül dahinter: "Die AKP möchte ein junges, aber loyales Publikum erschaffen", so Demoskop Uslu.
"Dieses Ziel erreicht sie mithilfe von Polarisierung und Spannungen in der Bevölkerung. So entsteht eine stärkere Bindung an die Partei." Diese "Polarisierungspolitik" gelte aber auch für den Rest der Wählergruppen, ergänzt der Meinungsforscher.
Erdogans Strategie zahlt sich aus
Diese Strategie hätte sich laut Uslu bislang ausgezahlt: "Man kann sehen, dass der Stimmenverfall der AKP trotz der schweren Wirtschaftskrise nur sehr langsam voranschreitet." Die Politik der Spannung und Polarisierung habe die emotionalen Bindungen der derzeitigen Wähler gefestigt.
Auch der ruppige Umgang mit den Studenten sei ein Teil dieser Strategie. Es ginge für Erdogan immer darum "Feinde zu erschaffen", schlussfolgert İbrahim Uslu. "Manchmal ist dieser Feind im Ausland, manchmal im Inland. Aber es gibt Helden und gute Leute, die mit diesen Feind bekämpfen", so laute das gängige Narrativ.
Laut Can Selcuki, Chef des Wahlforschungsinstituts İstanbul Ekonomi Araştırma, ist bei den kommenden Präsidenten- und Parlamentswahlen im Jahr 2023 mit fünf Millionen jungen Erstwählern zu rechnen.
"Diese Menschen wollen einfach gehört werden"
"Das ist natürlich ein unwiderstehliches Potenzial - sowohl für die Regierung als auch für die Oppositionsparteien", sagt Selcuki. Alle Parteien müsste es daran gelegen sein, eine Strategie zu finden, um diese Neuwähler zu gewinnen. "Wenn man sich das Vorgehen der Regierung bei der Bogazici-Universität anschaut, sieht es jedoch nicht danach aus, dass die Regierung es für nötig hält, den jungen Menschen zuzuhören".
Selcukis Wahlforscher haben 236 der demonstrierenden Studenten in Istanbul befragt, was deren Ziele und Erwartungen sind. "Diese Menschen möchten einfach gehört werden und ernst genommen werden. Sie wollen eine Gesetzesänderung, die zukünftig eine autonome Ernennung des Direktors festlegt." Doch niemand hört der Verantwortliche höre ihnen zu oder interessiere sich dafür, was die Studenten wollen, sagt Politikwissenschaftler Can Selcuki: "Das ist ein Problem."